Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Morgen muβ ich es schaffen. In Gedanken dehnte er die Stunden des nächsten Tages, bis er eine lange, stille Strecke Zeit vor sich sah, die immer mehr zu einer schnurgeraden, wunderbar breiten und leeren Straße wurde, auf der man in flirrender Hitze den verwischten Konturen eines ockergelben Horizonts entgegenfuhr.
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Kurz nach sechs erwachte er mit der Gewißheit, daß er auf der Stelle nach Hause fahren und sich davon überzeugen mußte, daß nicht alles, was er bisher geschrieben hatte, Betrug gewesen war. Ohne zu duschen schlüpfte er in die Kleider, vergewisserte sich, daß er Papiere, Geld und den Schlüssel für die Wohnung bei sich hatte, und schlich sich aus dem Zimmer wie jemand auf der Flucht.
Giovanni hatte gedöst, sah ihn an wie ein Gespenst und verwählte sich zweimal, ehe er die Taxizentrale erwischte. Erst als er im Fond des Wagens saß, merkte Perlmann, wie zerschlagen er war. Er streckte sich auf der Rückbank aus, und nach einer Weile fiel ihm der Traum wieder ein, der ihn unbemerkt umklammert gehalten hatte. Das Hervorstechendste und Beklemmendste daran war das Reiben seines schweißnaßen Daumens auf der kleinen Schiefertafel mit dem Holzrahmen – eine Bewegung, die an ihm klebte wie ein körperlicher Makel. Stets von neuem wischte er die mißglückten Umrechnungen von Reaumur in Fahrenheit aus und starrte auf die Wandtafel, die er von der ersten Reihe aus mit ausgestrecktem Arm fast hätte berühren können.
«Wer hat nichts?»schrie der Mann mit der Knollennase und dem Schillerhemd. Perlmann behielt die Hand unten und hörte auf zu atmen, während sein Herz betäubend laut schlug – bis es dann plötzlich zu schlagen aufhörte, als der runzlige Arm des Mannes sich von hinten in sein Gesichtsfeld schob und die kurzen, knubbeligen Finger nach seiner leeren Tafel griffen.
Perlmann richtete sich auf und bat den Fahrer um eine Zigarette. Ein Sprichwort war es, was der Lehrer damals mit genüßlichem Lächeln in ihn hineingebohrt hatte. Aber es wollte ihm nicht einfallen.
Als er die Halle des Flughafens betrat, war es Viertel nach sieben. Der erste Flug nach Frankfurt ging um Viertel vor neun. Er kaufte Zigaretten und trank einen Kaffee. Während er nachher darauf wartete, einen Flugschein kaufen zu können, kam er sich schutzlos vor, weil er nichts zu lesen bei sich hatte.
Die Maschine stieg in einen leuchtenden Himmel hinein, und wenn man die Augen halb schloß, verschmolz dieses Leuchten mit dem silbernen Glanz der Tragfläche. Als die Stewardeß Zeitungen brachte, hatte Perlmann mit einemmal das Gefühl, aus dem Alptraum des Hotels aufgewacht und wieder in die normale Welt zurückgekehrt zu sein. Gierig las er die Zeitung, und für eine Weile gelang es ihm – gewissermaßen hinter dem Lesen -, sich vorzumachen, es sei alles vorbei und er fliege ganz nach Hause. Doch kaum senkte sich die Maschine in die Wolkendecke hinein, die er erst jetzt bemerkte, fiel dieses Trugbild in sich zusammen, und übrig blieb der verzweifelte Gedanke, daß er nun auch noch den letzten ganzen Tag verschwendete, an dem er hätte schreiben können, und daß er ihn an eine Reise verschwendete, die sinnloser gar nicht hätte sein können.
Die Landschaft, die sich unter den Wolken auftat, war mit einer Schneedecke überzogen. Damit hatte er nicht gerechnet, und seine erste Regung war, das Flugzeug anhalten und umdrehen zu wollen. Er vergaß, sich für die Landung anzuschnallen, und wurde von einer barschen Stewardeß ermahnt. Als die Triebwerke mit einem Pfeifen ausliefen, wäre er am liebsten sitzen geblieben wie an der Endstation der Straßenbahn.
Als er in der großen Halle am Geschäft mit den Büchern und Zeitschriften vorbeikam, fiel sein Blick auf den Namen LESKOV. Er fuhr zusammen wie jemand, der bei einer verbotenen Operation im Dunkeln plötzlich von grellen Scheinwerfern angestrahlt wird. Hastig ging er auf das Gestell zu, in dem das Buch stand. Der Umschlag zeigte den Ausschnitt eines Gemäldes, das den Palastkai in St. Petersburg darstellte, gesehen von der Peter-Pauls-Festung aus, mit der Neva im Vordergrund. An der Stelle, die diesem Maler am günstigsten erschienen war, hatten sie gestanden, er und Leskov, und es kam Perlmann vor, als müsse es sich wirklich um haargenau denselben Fleck gehandelt haben. Dort war es gewesen, daß er Leskov gegen seinen Willen von Agnes erzählt hatte, während ihm die Kälte fast den Atem raubte.
Aufgeregt schlug er das Buch auf und las die Titel der
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