Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
diese Spanierin, die ihm in diesem Moment ganz fremd war, Kirsten mit ihrem Blick so ausdrucksvoll ignorierte.
    «Du brauchst dich nicht zu entschuldigen», sagte sie mit einem Gesicht, das ihn an eine Lehrerin erinnerte. «i Buenas noches!»
    Mitten auf der Treppe blieb Kirsten stehen und sah in die Halle hinunter, wo Evelyn Mistral mit Ruge und von Levetzov stand.«Irre ich mich, oder hat sie dich geduzt? Ich meine, ich kann ja kein richtiges Spanisch, aber es klang mir so. »
    Perlmann hatte nicht gewußt, daß es derart anstrengend sein konnte, einen ungezwungenen Ton anzuschlagen.«Ach so, ja. Ist in Spanien so üblich in akademischen Kreisen. »
    Bevor sie in ihren Flur einbog, blieb Kirsten noch einmal stehen.«Boda. Was heißt das schon wieder?»
    Diesmal gelang ihm ein natürliches Lächeln.«Hochzeit.»
    Über ihrer Nase bildete sich die steile Furche, die er nicht mochte.«Hochzeit?»
    «Ein kleiner Scherz zwischen uns.»
    Sie kickte etwas Imaginäres vom Teppich, warf ihm einen kurzen Blick zu und verschwand in den Korridor.

22
     
    Als Perlmann am nächsten Morgen aus seinem leichten und unruhigen Schlaf erwachte und auf die Terrasse hinunterblickte, sah er, wie Kirsten gerade über Silvestris Trick mit der verschluckten Zigarette lachte. Die beiden hatten Tassen vor sich stehen, und auf dem weißen Bistrotisch lagen zwei blaue Schachteln Zigaretten, die genau gleich aussahen. Kirstens wirres Haar fiel auf das gelbe Sweatshirt, und jetzt, wo sie sich eine Strähne aus dem Gesicht strich, sah er die große Sonnenbrille, die das halbe Gesicht verdeckte.
    Im Traum hatte sie das glitzernde Kleid von gestern abend angehabt, und die Frisur mit dem hochgesteckten Haar hatte überhaupt nicht zu ihr gepaßt. Hatte sie wirklich eine Brille getragen? Perlmann hielt das Gesicht unter den Wasserstrahl. Oder hatte das Gefühl, sie sei ihm fremd, gegen das er stets von neuem angekämpft hatte, mit etwas anderem zu tun gehabt? Er hatte sich gewundert und war stolz gewesen, daß sie plötzlich Spanisch konnte. Nur hatte er nicht richtig verstanden, was sie mit ihrem violetten Mund sagte, als sie an ihm vorbei die Treppe hinunterging. Die Kollegen warteten in der Halle auf sie, und als sie zu ihnen trat, hatte der helle Klang ihres Lachens ihn unsicher gemacht, ob das wirklich seine Tochter war.
    Er ging so langsam durch die Halle, daß Signora Morelli hinter der Empfangstheke von ihren Papieren aufsah. Seiner Tochter scheine es hier sehr zu gefallen, meinte sie. Er nickte, bestellte bei dem hereinkommenden Kellner Kaffee und trat dann hinaus.
    Kirsten wollte unbedingt nach Rapallo hinüber.
    «Weißt du», fragte sie Silvestri in holprigem Italienisch,«ob es die Gebäude noch gibt, wo die beiden Verträge unterzeichnet worden sind?»
    Perlmann schwieg. Sie duzte den Italiener. Und warum zwei Verträge?
    «Ich muß wirklich etwas arbeiten», lachte Silvestri, als er sah, wie enttäuscht sie war, daß er nicht mitkommen wollte.«Ich bin nicht so fleißig gewesen wie dein Vater. »
    Nachher, auf dem Schiff, erzählte Kirsten von Silvestris Arbeit in der Klinik, und wäre ihr Ton nicht eine Spur zu beiläufig gewesen – man hätte glauben können, sie kenne ihn seit Jahren. Er hatte ihr offenbar viel von seiner früheren Arbeit mit autistischen Menschen gesprochen, und auf einmal wußte sie auch über Franco Basaglia Bescheid, dessen Kühnheit sie beschrieb, als sei sie bei seinem Experiment mit dem Öffnen der Anstaltstore dabeigewesen. Zwischendurch zog sie an einer filterlosen Gauloise, und es kam Perlmann vor, als sei die Bewegung, mit der sie die Tabakkrümel von der Zunge klaubte, der Bewegung von Silvestris weißer Hand nachgebildet. In zehn Tagen, berichtete sie, müße Giorgio nach Bologna, um den Beginn eines neuen Therapieplans zu beaufsichtigen, und dabei könne er nach einigen besonders schwierigen Patienten sehen, die ja jetzt ohne ihn hätten auskommen müssen.
    Dadurch, daß Kirsten sich hinter der großen Sonnenbrille mit Silvestris Terminkalender beschäftigte, kam zu den vielen anderen Zeiten noch einmal eine ganz neue hinzu, und Perlmann war unsicher, ob diese neue Zeit, in der Kirsten Silvestris Begleiterin war, ihm seine Tochter näher brachte, weil es eine italienische Zeit war, eine Zeit diesseits der Alpen, oder ob ihm Kirsten, umhüllt von der neuen Zeit, fremd vorkam, sogar als Verräterin, weil es sich um die Zeit eines Menschen handelte, der -anders als etwa Martin jenseits der Alpen – auf

Weitere Kostenlose Bücher