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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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beklommener Nüchternheit, daß auch diese Lösung undenkbar war. Ganz abgesehen davon, daß es sich um keinen zusammenhängenden Text handelte, würde man diese sonderbaren Aufzeichnungen als impressionistisch und anekdotisch belächeln, als nicht überprüfbar, zudem oftmals unstimmig, voll von Widersprüchen, kurzum, als unwissenschaftlich. Der Text würde Leute wie Millar und Ruge sprachlos machen, sie sähen nur noch die Möglichkeit der Ironie, das Mildeste wäre noch, daß sie ausdrucksvoll schwiegen.
    Daß er danach als einer dastünde, der die Wissenschaft aufgegeben hatte und mit dem in Zukunft nicht mehr zu rechnen war, und das ausgerechnet jetzt, wo er den Preis erhalten hatte und die Einladung nach Princeton bevorstand – das war noch nicht das Schlimmste an dieser Möglichkeit. Was den Gedanken vollends unerträglich machte, war, daß diese Aufzeichnungen viel zu intim waren und ihn vor jedem Leser entblößten. Sie waren ihm als derart intim erschienen, daß er sich wohler gefühlt hatte, wenn er sogar vor sich selbst die Distanz einer fremden Sprache in Anspruch nahm. Für jemanden mit Englisch als Muttersprache – also etwa für Millar – fiel diese Distanz weg. Perlmann schauderte. Und plötzlich dann hatte er den Eindruck, die Scheu den eigenen Sätzen gegenüber besser zu verstehen als bisher: Viele der Aufzeichnungen zeigten ihn als schüchternes, verletzliches Kind, das mit unverstandenen Erfahrungen rang.
    Wenn er überhaupt nichts vorlegte, wurde auch daran etwas sichtbar, was er gern verborgen gehalten hätte. Aber es blieb global und abstrakt, es war das Eingeständnis einer Unfähigkeit, die im übrigen im dunkeln blieb. Was er dahinter dachte und erlebte, blieb unklar, unbekannt, es lag an ihm selbst, sich weiteren Einblicken zu verschließen. Seine Aufzeichnungen dagegen, so schien ihm, waren wie ein Fenster, durch das man direkt in sein Innerstes blicken konnte. Die anderen sie lesen zu lassen, würde bedeuten, alle mühsam erworbene Abgrenzung zunichte zu machen, und es kam Perlmann vor, als bestünde zwischen diesem Vorgang und der vollständigen Vernichtung kaum ein Unterschied.
    Die Luft in der Schiffskabine war zum Schneiden, und Perlmann hatte das Gefühl, an seinem eigenen Rauch zu ersticken. Er drückte die Zigarette aus und ging hastig hinaus. Er machte auf dem ganzen Schiff die Runde, seine Augen suchten nach etwas, was seine Aufmerksamkeit für einen Moment zu fesseln vermöchte, für ein paar Minuten nur, die einen letzten kleinen Aufschub bedeuteten, ein letztes Atemholen für das, was nun kam.
    Er war froh, als ihn ein älterer Mann von zwerghaftem Wuchs um Feuer bat. Für einen Augenblick war er versucht, sich in ein Gespräch mit ihm zu flüchten; doch dann stieß ihn sein stets offener Mund mit der weit nach vorne gewölbten Zunge ab. Er verzog das Gesicht zu einem mühsamen Lächeln und ging wieder nach vorn, wo er ganz langsam, fast im Zeitlupentempo, an die Reling trat, sich mit gestreckten Armen aufstützte und die Augen schloß.
    Die dritte Möglichkeit hatte er bis zu diesem Augenblick noch nie in einen ausdrücklichen Gedanken zu fassen gewagt. Sie war ihm bisher nur in der Form einer dunklen, undurchdringlichen Empfindung gegenwärtig gewesen, von der er sich rasch abgewandt hatte, sooft sie am Rande des Bewußtseins aufgetaucht war. Denn es war eine Empfindung – das spürte er überdeutlich, wenn sie ihn streifte -, von der eine schreckliche Bedrohung ausging, und gefährlich war es allein schon, ihrem genauen Gehalt nachzugehen. Und so kam es ihm wie eine gewaltige Anstrengung vor, es war ein Aufgebot von Mut, das er körperlich zu spüren meinte, als er dieser Möglichkeit nun zum erstenmal ins Gesicht sah: der Möglichkeit, die Übersetzung von Leskovs Text als seinen eigenen Text auszugeben.
    Es war, als ob sich ein tückisches Gift in ihm ausbreitete, als er zuließ, daß sich dieser verzweifelte Gedanke in aller Klarheit vor ihm entfaltete. Es tat weh, sich als einen zu erleben, der einen solchen Gedanken allen Ernstes erwog, es war ein trockener Schmerz, frei von jeglichem Selbstmitleid und gerade deshalb um so entsetzlicher. Was da geschah, das spürte er mit einer Wachheit, in der alle Selbstbeschwichtigungen verbrannten, war ein tiefer Einschnitt in seinem Leben, ein unwiderruflicher, unheilbarer Bruch mit der Vergangenheit und der Beginn einer neuen Zeitrechnung.
    Keiner der Kollegen konnte den Betrug entdecken, selbst wenn ihnen der russische

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