Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Satz verwendet werden. All das bedeutete in jeder Sekunde einen Drahtseilakt, bei dem man auf zweierlei Weise abstürzen konnte. Einmal konnte es einem geschehen, daß man über den alten Satz einen Augenblick zu lange nachdenken mußte, vielleicht sogar, daß man durch ein unbekanntes Wort in Panik versetzt wurde; dann startete man zu spät in den Prozeß hinein, in dem man seine geschulten Erwartungen den neuen Satz betreffend hätte aufbauen sollen, und mußte den neuen Satz als verpaßt abschreiben. Oder man ließ sich von der Angst hetzen, daß genau das passieren könnte; dann lief man Gefahr, den Blick einen Tick zu früh nach vorne zu richten, noch bevor die deutsche Gestalt des alten Satzes den Punkt der Selbstverständlichkeit erreicht hatte und der unbewußten Beendigungsroutine überlassen werden konnte, und nun schaffte man den Abschluß des alten Satzes nicht mehr. Der schlimmste Fall war eine Kombination von beidem. Dann trat eine Art Lähmung ein, man spürte, daß man eigentlich noch einmal kurz zurückblicken sollte, um den alten Satz korrekt abzuschließen, aber es war klar, daß man dann für den neuen Satz zu spät käme, man wußte nicht, was wichtiger war, durch diesen Zweifel verlor man Zeit, und dann fiel man für beide Sätze aus, den alten und den neuen, und mußte den Ärger über das eigene Versagen schleunigst abschütteln, um sich in die nächste Satzfolge einzuklinken.
Das schien Perlmann das Schwerste zu sein: nicht zum Gefangenen des Ärgers über gelegentliche Einbrüche zu werden, die unvermeidlich waren. Zum Training eines Dolmetschers, dachte er, würde gehören, erst gar keinen Ärger aufkommen zu lassen, blitzschnell und emotionslos die Entscheidung zu treffen, daß an dem laufenden Satz nichts mehr zu retten war, eine normale Panne, die sofort zu vergessen war. Das war vor allem eine Frage des Selbstvertrauens, der Gewißheit, daß man sich insgesamt auf seine Konzentrationsfähigkeit verlassen konnte. Und solange man diese schwierige Balance hielt und erlebte, wie man Herr der Lage blieb, war es ein wunderbares Gefühl, das zum Rausch werden konnte. Der Rausch müßte sich noch steigern, dachte er, wenn man soweit war, zwischen zwei Fremdsprachen dolmetschen zu können, zweien, die möglichst exotisch waren, weit entfernt von der natürlichen Selbstverständlichkeit der Muttersprache. Vielfalt der beherrschten Sprachen, das war Freiheit, und die eigenen Grenzen ganz weit ins Exotische hinausschieben zu können, das mußte eine ungeheure Steigerung des Lebensgefühls sein, ein wahrer Freiheitsrausch.
Perlmann probierte jetzt, zwischen den Fremdsprachen, die aus dem Lautsprecher kamen, hin und her zu springen, und er kam sich jedesmal plump und dumm vor, wenn er gegen das Japanische prallte wie gegen eine undurchdringliche Wand. Die besondere Höhe und Helligkeit der japanischen Stimme hörte sich dann an, als mache sich die Frau über sein fehlendes Verstehen lustig. Es gefiel ihm, die ganze Anstrengung im stillen unternehmen zu können, sich gewissermaßen nur innerlich einzumischen, ohne den Lärm, den es bedeutete, wenn man sich sprechend mit der Welt einließ. Und in einer Pause des Lautsprechers, als nur das leise Rauschen des Wassers und das Tuckern des Motors zu hören waren, wußte er auf einmal, was er hätte sein mögen: ein Langstreckenläufer durch alle Sprachen der Welt hindurch, mit viel leerem Raum um sich, und ohne die Verpflichtung, mit den Menschen auch nur ein einziges Wort zu wechseln.
Diesem Gedanken hing er nach, als er nachher in einer schäbigen Kneipe in der Nähe des Hafens vor einer Pizza saß, die ihm widerstand. Er bat den verwunderten Wirt um Papier und Bleistift und begann, auf einem fleckigen Rechnungsblock die Art von Gegenwart und Freiheit zu beschreiben, die entstand, wenn man kurz hintereinander mehrere Sprachen durchschritt. Anfänglich war es mühsam, er war müde von Sonne und Lautsprecher, und die viel zu lauten Stimmen hallten im Kopf nach. Doch dann kam er in Fahrt, es gelangen ihm präzise und dichte Beschreibungen, und er formulierte Dinge, die er bisher nur vage gefühlt, noch nie aber in Worte gefaßt hatte. Zwischendurch blickte er nach Süden. Das Hotel war über eine Schiffsstunde entfernt. Er wurde ruhig. Hier an diesem wackligen Tisch, von dem die Farbe abblätterte, inmitten von Männern in Unterhemden und Latzhosen, die im Hafen arbeiten mochten, fühlte er sich mit einemmal sicher. Es gelang ihm, ganz dazu zu stehen,
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