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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Gesicht vor sich und hörte den Scherz, den Agnes über seine erschrokkene Reaktion gemacht hatte.
    In diesem Moment klingelte erneut das Telefon.
    «Ich muß noch heute nacht nach Bologna in die Klinik fahren», sagte Silvestri.«Ausgerechnet jetzt, wo der Chef weg ist, ist der andere Oberarzt erkrankt, und es scheint auf einmal der Teufel los zu sein.»Perlmann hörte ihn rauchen.«Zwei Patienten sind... ausgerissen. Sie werden für gefährlich gehalten, und die Polizei hat sich eingeschaltet.»Er hustete.«Es tut mir leid, daß ich so unzuverlässig bin. Aber ich kann die anderen unmöglich hängenlassen. Aus meinen Sitzungen am Montag und Dienstag wird nun natürlich nichts. Ich nehme an, Sie selbst werden diese Termine übernehmen. Ich komme auf jeden Fall noch einmal zurück, und vielleicht kann ich dann in der zweiten Hälfte der Woche etwas vortragen.»Er lachte.«Und wenn nicht – die Wissenschaft wird auch ohne mich weitergehen!»
     
    Langsam legte Perlmann auf. Seine Finger hinterließen Schweißspuren auf dem Hörer. Montag. Morgen ist Freitag. Und ich habe nichts. Keinen einzigen Satz. Er wischte die Hände an der Hose ab. Er fror. Es war vollkommen gleichgültig, was er jetzt tat. Jede Bewegung war genauso unbegründet und nutzlos wie jede andere. Jetzt war es nicht mehr aufzuhalten.
    Mit schleppenden Schritten ging er ins Bad und nahm eine ganze Schlaftablette. Das Wasser schmeckte heute stärker nach Chlor als sonst. Der Geschmack erinnerte ihn an die erste Schwimmstunde im Hallenbad, als er beinahe ertrunken war. Es war eine beklemmende Erinnerung, aber sie führte weg aus der Gegenwart, und er hielt sich an ihr fest, während sich die Betäubung langsam in ihm ausbreitete.

II
     
    Der Plan
     

25
     
    Er erwachte mit Kopfschmerzen und einem Film von Schweiß auf dem Gesicht. Es war Viertel vor zehn, und die Sonne schien aus einem wolkenlosen Himmel auf das spiegelglatte Wasser der Bucht. Heute muβ ich eine Entscheidung treffen. Irgendeine.
    Hier in diesem Zimmer, gleichsam unter den Augen der anderen, konnte er zu keinem Entschluß gelangen, dachte er unter der Dusche. Er verließ das Hotel durch den Hinterausgang und trank in einer Bar an der Piazza Veneto Kaffee. Allmählich ließen die Kopfschmerzen nach, und er ertrug es besser, in den strahlenden Herbsttag hinauszublicken.
    Es nützte nichts, den anderen Silvestris Abreise zu verschweigen. Im Laufe des Tages würden sie es von Signora Morelli erfahren, spätestens, wenn sie nach den Texten für die Montagssitzung fragten. Und dann würden sie unweigerlich annehmen, daß er, Perlmann, die nächsten beiden Sitzungen bestritt. Where are his papers? hörte er Millar fragen. Spätestens beim Abendessen mußte er sagen können, daß das Kopieren im Gange sei. Sonst konnte er sich nicht mehr blicken lassen.
    Drüben auf der Mole, wo die Linienschiffe anlegten, sammelten sich Menschen, Einheimische mit Körben und Fahrrädern, aber auch einige Touristen mit Kameras. Auf einmal kam es Perlmann vor, als würde ihm eine lange Fahrt mit dem Schiff mehr als alles andere helfen, Klarheit zu gewinnen, und er legte möglichst viel Nachdruck in diesen Gedanken, damit er die lauernde Panik übertönte.
    Um elf fuhr ein Schiff nach Genua. Er stand abseits von der wartenden Gruppe, noch eine Viertelstunde, er rauchte ungeduldig, jetzt erschien es ihm unerträglich, noch länger auf dem Festland zu stehen, er wollte endlich den Fuß aufs Boot setzen und zusehen, wie sich die Wasserfläche zwischen ihm und der Hafenmole vergrößerte. Um elf war das Schiff noch immer nicht zu sehen. Er verfluchte die italienische Unpünktlichkeit.
    Als er eine halbe Stunde später endlich an der Reling stand, ganz vorne auf dem Schiff, strengte er sich an, die Sinne weit zu öffnen, damit ihre Eindrücke tief und mit Macht in ihn eindrängen, so daß sie die verzweifelten Gedanken zu überwältigen und ersticken vermöchten. Er hatte keine Sonnenbrille bei sich, es tat weh, in das blendende Licht hinauszublicken, aber er kniff die Augen zusammen und versuchte, es trotzdem ganz in sich aufzunehmen. Es brach sich auf dem Wasser, in der Nähe des Bugs waren es funkelnde Punkte, leuchtende kleine Sterne, weiter draußen ruhige Flächen aus Weißgold und Platin, darüber eine Schicht von hauchdünnem Nebel, und in der Ferne ging die gleißende Fläche bruchlos über in Dunst, der sich nach oben in eine Kuppel aus milchigem Blau auflöste. Den schweren, ein bißchen betäubenden

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