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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Text durch den unwahrscheinlichsten Zufall in die Hände fallen sollte. Für sie war ein russischer Text nicht mehr als ein verschlossenes Schriftbild, ein Ornament. Ferner kannte keiner von ihnen Leskov, niemand wußte seine Adresse, gefallen war nur der Name St. Petersburg. Und schließlich hatte keiner den geringsten Grund, mit diesem unbekannten, obskuren Russen, der in der Fachwelt ein Niemand war, Verbindung aufzunehmen und damit die Gefahr einer Entdeckung durch Leskov selbst heraufzubeschwören. Später, wenn es um eine Publikation der Arbeiten ging, konnte er den Text zurückziehen und durch einen eigenen ersetzen. Notfalls konnte er auch die Drucklegung verzögern, er selbst würde der Herausgeber des Bandes sein. Zusammen mit seinem eigenen Ausdruck würde es insgesamt nur sieben Exemplare des betrügerischen Textes geben, und man würde es respektieren, wenn er nachdrücklich darum bat, den Text nicht weiter zu verbreiten, da es nur eine erste, vorläufige Fassung sei, ein Versuch. Wenn sie dann von seiner Weiterentwicklung nichts mehr hörten, keine weiteren Fassungen sahen und statt dessen einen ganz neuen Text von ihm lasen, würden die anderen das Papier schließlich beiseite legen, es würde vergessen werden und auf einer Ablage oder in einem Schrank vergilben und verstauben, bis es schließlich irgendwann einer Aufräumaktion, wie jeder sie in seiner Papierflut hin und wieder vornahm, zum Opfer fiele und vernichtet würde.
    Riskieren konnte er es also. Und vom wissenschaftlichen Ansehen her stünde er ungleich viel besser da als in den beiden anderen Fällen. Zwar war Leskovs Text eigenwillig und an manchen Stellen kühn; man konnte ihn auch eigenbrötlerisch nennen. Aber er konnte in der Diskussion auf Literatur aus der Gedächtnisforschung verweisen, die Leskov selbst nicht zugänglich gewesen war, und im übrigen konnte man den Text als einen konzeptionellen Text kennzeichnen, einen Entwurf der großen Linien und also im Grunde genau passend für diese Gelegenheit. Millar und Ruge, das war ziemlich klar, würden über so viel Spekulation die Nase rümpfen. Aber es war gut möglich, daß die anderen den Text interessant fänden. Bei Evelyn Mistral war das ohnehin klar. Aber selbst ein Mann wie von Levetzov hatte neulich bei dem Thema aufgehorcht. Perlmann, so könnte es aussehen, versuchte etwas Neues, das zwar keine Linguistik mehr war, aber phantasievoll und provokativ. In seiner Arbeit passierte, entwickelte sich etwas, und insgeheim mochten sie ihn um seine Courage sogar ein bißchen beneiden.
    Perlmann war schlecht, und er warf die eben angezündete Zigarette ins Wasser. Er war erleichtert, daß sie nun in den Hafen von Genua einliefen und es einiges zu beobachten gab, die Besatzung, welche die Taue warf, das dampfende Wasser, das aus der Bugwand sprudelte, und weiter drüben die großen Schiffe und die Kräne, deren Arme über die hohen Stapel farbiger Container hinwegglitten. Als die Familie von vorhin plötzlich neben ihm war und die Kinder sich laut zuriefen, was sie sahen, störte es ihn nicht, im Gegenteil. Er floh vor seinen Gedanken und wünschte, aus seinem Inneren heraustreten und sich draußen in den Dingen verlieren zu können, restlos aufzugehen in den Steinen der Kaimauer, in den Holzpfählen, an denen sich das Schiff rieb, im Kopfsteinpflaster der Straße, in all den Dingen, die einfach nur da waren und sich selbst genügten.
    An Land hielt es ihn nicht, das Fehlen der schaukelnden Bewegung gab ihm ein Gefühl von Kerker, auch wenn es ihm freistand zu gehen wohin er wollte in dieser Stadt am Hang, die im herbstlichen Mittagslicht etwas von einer Wüstenstadt hatte, etwas Orientalisches. Das Schiff ging erst um Viertel nach drei wieder zurück, aber es gab stündlich eine Hafenrundfahrt, und die Leute für die Fahrt um eins stiegen gerade ein. Perlmann war froh, daß es spät im Jahr war und die beiden Plätze neben ihm frei blieben. Wenn er den Arm über die Bootswand hinabhängen ließ, konnte er das dunkelgrüne, beinahe schwarze Wasser fast berühren. Es trieben Öllachen vorbei und Abfall, an den klareren Stellen konnte man Algen erkennen, und ab und zu war eine verrostete Kette zu sehen, die zur Vertäuung eines Schiffs diente.
    Er fuhr zusammen, als der Lautsprecher mit einem Knacken eingeschaltet wurde und eine unnötig laute Frauenstimme die Gäste begrüßte, zuerst auf italienisch, dann auf englisch, deutsch, französisch und spanisch und zuletzt in einer Sprache, die

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