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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Japanisch sein mußte. Es war idiotisch, aber daran hatte er nicht gedacht, gerade so, als sei er das erste Mal im Leben auf einem Sightseeing-Boot. Es würde eine einstündige Tortur werden, all diese Informationen und Erklärungen, die ihn einen Dreck interessierten, und alles immer in sechs Sprachen. Dabei mußte er dringend nachdenken, noch nie waren Ruhe und Konzentration so wichtig gewesen wie jetzt.
    Die Stimme aus dem Lautsprecher, schrill und gelangweilt, begann mit Angaben über die Größe des Hafens und das Volumen des Güterumschlags, dann lief ein Band mit denselben Informationen in den anderen Sprachen, alles Frauenstimmen, nur der spanische Text wurde von einem Mann gesprochen. Perlmann hielt sich die Ohren zu, die Wiederholungen waren unerträglich. Daß er die Dummheit begangen hatte, diese Fahrt mitzumachen, kam ihm vor wie ein Zeichen, daß es aus seiner Zwangslage keinen Ausweg gab. Es war wie ein Vorbote unabwendbaren Unheils.
    Sie fuhren an den ersten großen Schiffen vorbei, ihr schwarzer, geschwungener Bug ragte weit hinauf, entlang der Reling waren Rettungsboote befestigt, und vereinzelt gab es Matrosen, die winkten. Versetzt hinter einem anderen Schiff tauchte auf einmal eine schwarze Schiffswand mit dem Wort LENINGRAD auf, gemalt in weißen, kyrillischen Buchstaben. Perlmann wurde heiß und kalt, er schluckte und spürte, wie sich alles an ihm verkrampfte. Er wünschte sich in diesem Moment sehnlichst, die Buchstaben möchten für ihn vollständig fremd sein, weiße Linien nur, an denen es nichts zu lesen gab und nichts zu verstehen. Daß sie vertraut waren und ihm in ihrer Selbstverständlichkeit eine Bedeutung aufdrängten, gegen deren Erkennen er sich nicht zu wehren vermochte, war eine Quelle von Unglück, der eigentliche Grund, so schien ihm, für seine verzweifelte Lage.
    Agnes, da war er sich ganz sicher, hätte ihm zum ersten Weg geraten. Natürlich hätte sie verstanden, daß er ihm unangenehm war; aber sie hätte das Ganze viel weniger dramatisch gesehen als er. Es war, hätte sie vielleicht gesagt, wie wenn sie in der Agentur erklären müßte:«Tut mir leid, aber in den letzten Wochen sind mir irgendwie keine brauchbaren Aufnahmen gelungen.»Das war alles, eine vorübergehende Krise, kein Grund, von einem Gesichtsverlust zu reden.
    Aber Agnes hatte für eine Agentur gearbeitet, in der es sehr kollegial zuging, fast freundschaftlich. Sie hatte die akademische Welt mit ihrer Atmosphäre der Konkurrenz und des gegenseitigen Belauerns nicht von innen gekannt, nur aus seinen Erzählungen, und es war nicht selten zu Mißstimmungen gekommen, wenn er zu spüren meinte, daß sie ihm den stummen Vorwurf einer übergroßen, unverhältnismäßigen Empfindlichkeit in diesen Dingen machte.
    Die Fahrt verlief jetzt am Kai entlang, an dem die großen Frachter lagen. Zwischen den einzelnen Schiffen hindurch konnte man die lange Reihe der Lastwagen sehen, welche die Güter übernahmen. Hier wurde die Ware gelöscht. Ware löschen, das merkte Perlmann jetzt, war ein Ausdruck, zu dem er in keiner anderen Sprache das Gegenstück kannte, und für eine Weile hörte er auf, sich gegen den Lautsprecher zu stemmen, und konzentrierte sich auf den Wortschatz für Hafen und Schiffe. Er überließ sich ganz der schrillen italienischen Stimme und danach den anderen, den Tonbandstimmen mit ihrem sterilen Tonfall, der, so schien es ihm, nicht das geringste mit der farbigen Kulisse draußen zu tun hatte.
    Ohne es recht zu merken, fing er an, in Gedanken zu dolmetschen. Zuerst probierte er, wie gut er mitkam, wenn er ins Deutsche übersetzte. Es wurde ihm immer klarer, daß es darauf ankam, eine ganz bestimmte Balance der Konzentration zu halten. Man mußte auf den gerade zu Ende gehenden Satz zurückblicken und durfte den deutschen Satz erst zu formen beginnen, wenn im fremden Satz der Punkt der syntaktischen Eindeutigkeit erreicht war, nicht früher, sonst konnte es geschehen, daß man auf dem falschen Fuß begann und ins Stolpern geriet. Das hieß, daß man den deutschen Satz zwangsläufig zeitversetzt abschloß, mit einem starken Bedürfnis, ihn hinter sich zu bringen, um den Kopf für den nächsten frei zu haben. Man beschleunigte deshalb in der zweiten Satzhälfte ganz automatisch, indem man die Routine und Selbstverständlichkeit ausbeutete, mit der einem die Muttersprache zur Verfügung stand. Diese Phase durfte praktisch keinerlei Aufmerksamkeit mehr binden, denn die mußte bereits ganz auf den neuen

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