Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Geruch des Meerwassers atmete er in langsamen, tiefen Zügen ein, einen Geruch, der ihn schon als Kind immer von neuem zum Hamburger Hafen gezogen hatte, weil er eine intensive und zugleich vollkommen mühelose Gegenwart versprach.
Ich muβ mich konzentrieren. Wenn ich auf der Rückfahrt wieder an dieser Stelle vorbeikomme, muβ ich wissen, was ich tun werde. Er setzte sich unter das Vordach der Kabine in den Schatten. Es gab nur drei Möglichkeiten. Eine erste bestand darin, nichts vorzulegen. Kein Text, keine Sitzung. Das wäre eine Bankrotterklärung, welche die anderen zudem vor den Kopf stoßen müßte, denn sie käme ohne Vorankündigung und ohne vorheriges Werben um Verständnis. Das hatte er ja versäumt; im Gegenteil, er hatte, indem er sich bei Millar nach englischen Wörtern erkundigte, unweigerlich den Anschein erweckt, laufend an einem Text zu arbeiten. Es wäre ein plötzlicher und sprachloser Bankrott, ohne Erklärung von seiner Seite und ohne Verstehen bei den anderen, ein Abgrund an stummer Peinlichkeit. Und vollends unerträglich erschien Perlmann diese Möglichkeit, als er überlegte, auf welchem Wege er seinen Bankrott bekanntgeben könnte. Er konnte den anderen ja kaum einfach einen Zettel ins Fach legen lassen, auf dem ihnen in dürren Worten mitgeteilt wurde, es werde keinen Beitrag von ihm geben, die dafür vorgesehenen Sitzungen entfielen. Sollte er etwa hinzufügen: weil mir beim besten Willen nichts eingefallen ist? Sie würden eine Begründung verlangen, entweder ausdrücklich oder durch die Art ihres Schweigens. Oder sollte er beim Abendessen einen Offenbarungseid leisten, ans Glas klopfen und dann mit Worten, die allein schon durch die Situation von einer ungewollten und gräßlichen Feierlichkeit wären, erklären, daß er leider wissenschaftlich absolut nichts mehr zu sagen habe? Sollte er womöglich die einzelnen Kollegen auf ihren Zimmern aufsuchen und ihnen sein Unvermögen darlegen, sechsmal hintereinander und dann ein siebtes Mal am Telefon Angelini gegenüber, der zu seiner Sitzung unbedingt kommen wollte? Perlmann bekam einen trockenen Mund und ging rasch in den Bug zurück, um sich diesen Gedanken vom Fahrtwind vertreiben zu lassen.
Eine einheimische Familie mit zwei Kindern kam aus dem hinteren Teil des Schiffs nach vorn, die Kinder warfen sich einen Ball zu, und plötzlich war die Ruhe hier vorn, wo bisher nur einige Touristen an der Reling gestanden und fotografiert hatten, vorbei. An der Heftigkeit seines aufflammenden Ärgers merkte Perlmann, wie sehr er aus dem Lot war. Als der Junge den Ball verfehlte, so daß er über Bord flog, fing er an zu schreien wie am Spieß, er ließ sich von den Eltern nicht beruhigen, und Perlmann mußte an sich halten, um ihn nicht anzuschreien und zu schütteln, bis er aufhörte. Er floh in den hinteren Teil des Schiffs, aber das Schreien war auch dort noch zu hören, und außerdem ließ das dröhnende Maschinengeräusch keinen klaren Gedanken zu. Schließlich ging er in die Kabine und trank an der Theke einen lauwarmen Kaffee.
Er konnte, das war die nächste Möglichkeit, seine Aufzeichnungen zu Sprache und Erleben als seinen Beitrag präsentieren. Er müßte Maria von Genua aus anrufen und sie bitten, den Text unbedingt noch heute fertig zu schreiben, auf jeden Fall aber bis morgen mittag. Er konnte ihr ja die Sache mit Silvestri erzählen. Und sie bitten, die Überschrift zu streichen. MESTRE NON È BRUTTA, das wäre als Titel eines ohnehin äußerst fragwürdigen Texts eine zusätzliche und unnötige Provokation.
Er ging die Sätze noch einmal durch, die er in der Nacht zum Dienstag wiedergelesen hatte; einige sagte er sich halblaut vor. Heute morgen gefielen sie ihm, sie kamen ihm treffend vor und schienen etwas Wichtiges festzuhalten, was einem leicht entglitt. Es waren unaufdringliche, genaue Sätze, fand er. Für eine Weile verschmolz ihr ruhiger Duktus mit der Ruhe der leuchtenden Wasserfläche weit draußen, und es schien ihm nicht unmöglich, den anderen mit diesen Sätzen entgegenzutreten. Doch dann wurde er von einem alten Mann mit unsicherem Schritt angerempelt und gegen die Theke gestoßen, und plötzlich zerbrachen die Sicherheit und das Vertrauen, das er seinen Sätzen gegenüber eben noch empfunden hatte. Sie kamen ihm jetzt trügerisch vor wie Luftspiegelungen oder Wunschvorstellungen im Halbschlaf, und während er den übergeschwappten Kaffee von der Untertasse zurück in die Tasse schüttete, sagte er sich mit
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