Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Raum dahinter saß Giovanni vor dem laufenden Fernseher. Perlmann sah ein Fußballstadion unter Flutlicht, Giovanni war nach vorne gebeugt und rauchte hastig. Perlmann schlug auf die Glocke, aber erst beim zweitenmal drehte Giovanni den Kopf und stand zögernd auf, den Blick immer noch auf das Spiel gerichtet.«Elfmeterschießen», sagte er entschuldigend, als er Perlmanns Gesicht sah.
Einen Augenblick lang kam es Perlmann vor, als wolle es ihm nicht gelingen, den Mund zu öffnen. Nie zuvor hatte er auf diese Weise gespürt, daß er einen Mund hatte. Giovanni blickte ungeduldig über die Schulter zum Fernseher hinüber, in dem gerade tosender Jubel explodierte.
«Sechs Kopien», sagte Perlmann gepreßt,«und legen Sie die dann bitte in die Fächer der Kollegen.»
«Va bene, Signor Perlmann», sagte Giovanni und nahm den Text entgegen. Dabei fiel ein bißchen Asche von seiner Zigarette auf das makellose, glänzende Weiß des Titelblatts. Nur dadurch, daß er sich wortlos abwandte und ging, gelang es Perlmann, sich zu beherrschen. Als er einen Blick zurückwarf, sah er, wie Giovanni den Text hastig unter die Theke schob und in den Nebenraum verschwand.
Die Wirkung der Tablette setzte bereits ein, als er das Schild mit der Anweisung, nicht zu stören, an die Tür hängte. Er war dankbar dafür, daß die sanfte Welle der Betäubung die Empfindungen überspülte, die an die Oberfläche drängten, Empfindungen der Niederlage, der Scham und der Angst, das Gefühl abzustürzen, ohne zu wissen, wann er aufschlagen würde, die Gewißheit, daß es von nun an nie mehr einen Halt für ihn geben würde. Ohne Licht zu machen legte er sich ins Bett und war froh, daß sich die Lücke zwischen ihm und der Welt rasch vergrößerte.
26
I ch muß verrückt gewesen sein, komplett verrückt. Mit einem Schlag wurde Perlmann von einer schmerzhaften Wachheit überfallen, einer Wachheit hinter geschlossenen Augen, umspült von körperlicher Benommenheit. Es war Viertel vor acht. Hastig und noch unsicher in den Bewegungen zog er die Hose und den Pullover über den Schlafanzug und schlüpfte ohne Socken in die Schuhe. Vielleicht sind die Kopien noch gar nicht fertig, sonst sammle ich sie einfach wieder ein, noch ist nichts geschehen.
In eckigen Bewegungen, die seine Benommenheit verrieten, rannte er die Treppe hinunter, und einmal wäre er fast gestürzt. Kurz vor dem letzten Treppenabsatz kam er zum Stehen, indem er sich mit beiden Händen ans Geländer klammerte. Unten an der Theke standen Millar und von Levetzov und nahmen die Texte entgegen, die Signora Morelli ihnen reichte.
«Das Papier ist noch warm», sagte Millar grinsend und ließ den Blätterstoß den Daumen entlanggleiten wie ein Kartenspiel.
Die anderen Kopien steckten noch in den Fächern. Minuten, ich bin nur um Minuten zu spät gekommen, aber jetzt kann ich nicht mehr hingehen und den Text zurückfordern, damit würde ich mich unmöglich machen, das kann man nicht erklären. Wäre die Signora nur weniger tüchtig gewesen, nur dieses eine Mal.
Perlmann hastete zurück ins Zimmer, dabei stockte ihm auf jedem Absatz der Atem bei der Vorstellung, jetzt einem der anderen Kollegen in die Arme zu laufen. Im Badezimmer spülte er den Mund aus und setzte sich dann mit einer Zigarette in den roten Sessel. Es war ihm schwindlig. Er hatte eine Schwelle überschritten, hinter die er nie wieder würde zurückgehen können. Mit diesem Betrug, dessen Folgen sich nun unaufhaltsam entfalteten, würde er leben müssen, für immer. Übermorgen und am Tag danach würde er in der Veranda Marconi sitzen und einen Text verteidigen, den er gestohlen hatte. Die Stunden, die Minuten, die er dort als unerkannter Betrüger vor den anderen saß, würden endlos dauern, und wenn der Aufenthalt hier vorbei war, würde er die Wohnung in Frankfurt als Betrüger betreten. Er würde das Bild von Agnes betrachten und mit Kirsten sprechen, stets im Bewußtsein dieses Betrugs. Nichts würde mehr sein wie vorher. Das Plagiat stand nun für immer zwischen ihm und der Welt wie eine dünne Wand aus Glas, sichtbar nur für ihn. Er würde die Dinge und Menschen berühren, ohne sie jemals erreichen zu können.
Er konnte nicht in diesem Gebäude bleiben, in dem Menschen saßen, die in den nächsten Stunden Leskovs Gedankengängen in der Annahme folgten, es seien seine. Und er hielt es in diesem Hotelzimmer nicht mehr aus, für das seit vier Wochen pro Tag fast dreihundert Mark bezahlt wurden, ohne daß er darin
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