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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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das geringste geleistet hatte. Außer einer Übersetzung, die jetzt zu einer betrügerischen Übersetzung geworden war.
    Er duschte nicht, es stand ihm von nun an nicht mehr zu, das luxuriöse Badezimmer länger als unbedingt nötig zu benutzen. Nachdem er sich richtig angezogen hatte, hätte er gerne noch Kaffee bestellt, um die Nachwirkung der Tablette zu bekämpfen, die ihn vor nichts mehr zu schützen vermochte und nur noch als ein fortwährender Druck über den Augen lag, so daß er ständig das Bedürfnis hatte, sie zu schließen. Aber nicht einmal dem Kellner mochte er unter die Augen treten, und auch Zimmerservice gehörte zu den Dingen, auf die er in Zukunft kein Anrecht mehr hatte.
     
    Er verließ das Hotel durch den Hinterausgang und trat hinaus in einen wolkenlosen, strahlenden Herbsttag. So schnell er konnte ging er auf den Felsvorsprung zu, hinter dem die Straße nach Portofino verschwand, die letzten Meter, bevor er außer Sichtweite des Hotels war, rannte er fast. Aber sie wissen es doch gar nicht. Trotzdem, ich muβ aus ihrem Blickfeld verschwinden. Er wagte nicht, sich hinter der Biegung auf das Geländer zu lehnen. Er hätte unweigerlich ausgesehen wie ein Urlauber, ein Kurgast, der einen phantastischen italienischen Herbstmorgen genoß. So rauchte er die Zigarette aufrecht und steif, die eine Hand in der Hosentasche. Er mußte gehen, immer weiter, im Gehen ließ es sich noch am ehesten ertragen. Der Magen tat ihm weh, seit den wenigen Bissen Pizza gestern in Genua hatte er nichts mehr gegessen, und jetzt die Zigaretten.
    Es fiel ihm schwer, sich zu vergegenwärtigen, wie genau das gestern nacht gewesen war. Am meisten Schwierigkeiten bereitete der Versuch, die innere Gestalt jenes Moments zurückzurufen, in dem er Leskovs Text aus dem Koffer genommen hatte und zur Tür gegangen war. Während dieser Sekunden war es geschehen, da war etwas in Gang gesetzt worden, das nicht mehr abgebrochen werden konnte, eine Bewegungsfolge, die ihn bis zum Ende mit sich riß, bis zu der fatalen Armbewegung, mit der er Giovanni den Text übergeben hatte, und bis zu der mühsamen Bewegung des Mundes, mit der er die verhängnisvolle Anweisung zum Kopieren und Verteilen gegeben hatte. Als er jetzt mit geschlossenen Augen daran zurückdachte, kam ihm jenes Geschehen wie etwas vor, was gar keine Handlung gewesen, sondern über ihn gekommen, ihm einfach zugestoßen war; oder wenn es eine Handlung war, dann eine wie die eines Schlafwandlers. Einen Augenblick lang verschaffte ihm dieser Gedanke Erleichterung, und sein Schritt wurde ein bißchen leichter.
    Aber das hielt nicht lange an. Es war, darüber konnte man nicht hinwegsehen, etwas im Gefüge seines eigenen Denkens und Fühlens gewesen, das diese eine, ganz bestimmte Bewegungsfolge in Gang gesetzt hatte, und nicht eine andere. Auf dem Schiff gestern hatte es nach einem Gleichgewicht der Gründe ausgesehen. Die drei Möglichkeiten des Handelns hatten sich genau die Waage gehalten, sie schienen alle drei in gleichem Maße unausdenkbar, und darin hatte die Qual bestanden. In seinem unruhigen Schlaf dann mußte es in ihm gearbeitet haben, ein Kräftespiel mußte stattgefunden haben, und am Ende hatte etwas, vielleicht nur ein winziges Übergewicht einer Empfindung, den Ausschlag gegeben.
    Obgleich die Sonne direkt auf ihn herunterschien, knöpfte Perlmann die Jacke zu. Bei dem Gedanken, daß er einer war, in dem, ohne daß er es merkte und ohne daß er einzugreifen vermochte, der Betrug die Oberhand gewinnen konnte, fror er. Das einzige, was er dieser Tatsache entgegenzusetzen hatte, so daß sie ihn nicht vollständig erdrückte, war eine Erklärung für das innere Geschehen. Seine Angst vor der persönlichen Entblößung, davor, ohne jede Möglichkeit der Abgrenzung gegen die anderen dazustehen, mußte noch viel größer sein, als er bisher angenommen hatte, größer sogar als seine bewußten Empfindungen. Offenbar war sie so mächtig, daß die beiden anderen Möglichkeiten irgendwo in der Tiefe, ohne sein Zutun, ausgeschieden worden waren und nichts anderes übrig blieb, als sich hinter Leskovs Text zu verstecken, der ihn gegen die anderen schützen sollte. Auf diese Weise war, ohne daß er es bemerkt hätte, der paradoxe Wille in ihm entstanden, seine Abgrenzung, die Verteidigung des Eigenen gegen das Fremde, durch ein Instrument zu erreichen, das gar nicht ihm selbst gehörte, nichts Eigenes war.
    Diese Erklärung vermochte nichts zu mildern und zu beschönigen. Aber

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