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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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sie stellte eine Einsicht dar, die ihm einen kleinen Rest von innerer Freiheit zurückgab, die Freiheit des Erkennenden.
    Über dem spiegelglatten, blendenden Wasser lag eine Schicht von feinstem Nebel, genau wie gestern, als er vorne im Schiff gestanden und versucht hatte, seine Sinne für diese leuchtende Gegenwart zu öffnen. Aber zwischen gestern und heute lagen Äonen. Gestern war der Blick auf die Flächen von reinstem Glanz noch ein Blick in eine offene Zukunft gewesen. Ihre Offenheit hatte ihn gequält, denn jeder der möglichen Wege, auf denen er in sie hineingehen konnte, war bedrohlich erschienen. Aber es war trotz allem eine offene Zukunft gewesen, es hatte noch Verzweigungen des Handelns gegeben und damit noch Hoffnung, oder doch wenigstens die Freiheit der Ungewißheit. Jetzt war alles, die Ungewißheit und die Hoffnung, vernichtet, die Zukunft war kein Spielraum von Möglichkeiten mehr, sondern nur noch eine enge, verzweigungslose Strecke Zeit, auf der er die unabänderlichen Konsequenzen seines Betrugs zu durchleben hatte. In jenem alles entscheidenden Augenblick, als er Leskovs Text über die Theke reichte und die unheilvollen Worte herauspreßte, hatte er sich für immer einer offenen Zukunft beraubt und damit auch jedweder Hoffnung, irgendwann vielleicht doch noch zu seiner Gegenwart zu finden.
    Die gleißende Wasserfläche, die weiße Tiefe des Horizonts, das Gewölbe aus durchsichtigem Azur, durchschnitten vom silbernen Schweif eines steigenden Flugzeugs – all das war in unerreichbare Ferne gerückt, unerreichbar für sein Erleben. Wenn man so etwas getan hatte wie er, durfte man nicht mehr nach draußen sehen. Freude über Schönheit, ein Augenblick des Glücks gar, das stand einem nicht mehr zu. Der Preis für Betrug war Blindheit. Was blieb, war, sich innerlich zusammenzukauern und den Strudel von Schuld und Gegenwartslosigkeit über sich ergehen zu lassen. Die Welt draußen war nur noch Kulisse, eine in ihrer Schönheit quälende Kulisse, eine Marter.
    Perlmann war froh, daß man bis Portofino lange ging. Er hatte einen Rhythmus des Gehens gefunden, durch den sich der Schmerz und die Verzweiflung in der Schwebe halten ließen. Es war ein labiles Gleichgewicht, und als er einmal anhalten und eine Gruppe Pfadfinder im Gänsemarsch vorbeilassen mußte, stürzten die Empfindungen auf ihn ein, er war ihnen schutzlos ausgeliefert, und erst nach einigen Minuten erneuten Gehens hatte er wieder eine kleine Distanz zu ihnen aufgebaut. Die rhythmische Bewegung und die Nachwirkung der Schlaftablette verschmolzen zu einem Zustand, in dem es ihm bei halb geschlossenen, auf den Asphalt gerichteten Augen zeitweilig gelang, nichts zu denken.
    In eine solche Phase der inneren Leere hinein fiel der plötzliche Verdacht, daß die frühere Erklärung für sein nächtliches Handeln ganz und gar nicht stimmte. Die Wahrheit ist, daβ ich es möglichst schnell hinter mich bringen wollte, was immer es sei, um dann weiterschlafen zu können. Überhaupt nichts abzugeben und vor den anderen mit leeren Händen dazustehen, diese Möglichkeit hatte er nach dem Aufwachen um zehn mit keinem Gedanken gestreift, und das war natürlich kein Zufall. Soweit stimmte die Erklärung, die ein Entscheidungsgeschehen annahm, wenn auch ein unbewußtes. Aber von einer Entscheidung zwischen seinen eigenen Aufzeichnungen und Leskovs Text konnte keine Rede sein. Geschehen war etwas viel Einfacheres, Banales: Er hatte zu Leskovs Text gegriffen, weil der zur Hand war, weil er nichts weiter zu tun brauchte, als den Koffer zu öffnen. Sich zu erkundigen, ob Maria wider Erwarten doch noch mit dem Abschreiben seines eigenen Texts fertig geworden war, das war ihm in diesem Moment zuviel gewesen. Er hatte nichts anderes gewollt, als sich möglichst bald wieder hinzulegen und sich der noch anhaltenden Wirkung der Tablette zu überlassen. Hinzu mochte gekommen sein, dachte er und biß sich dabei auf die Lippen, daß er einer Frage, die Maria betraf, ausgewichen war, weil seine kindische Gekränktheit wegen ihrer geschäftsmäßigen Bemerkung am Telefon immer noch anhielt. Auf jeden Fall, sagte er sich mit erbitterter, selbstzerstörerischer Heftigkeit, war er im Grunde ganz froh darüber gewesen, daß das Eintreffen der Leute von Fiat diese Möglichkeit praktisch ausgeschlossen hatte.
    Perlmann erschrak über die Banalität dieser Erklärung, darüber, daß er sich in einer Frage, bei der es um alles ging, von etwas so Primitivem wie einem

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