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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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mehr wissen wollen als seinerzeit, als es nur um die Absage ging. Er mußte auf natürliche, ungezwungene Weise Auskunft geben, denn dies war ein Gespräch, an das sich die anderen erinnern würden, wenn die Nachricht vom Unfall eintraf. Der Eindruck, den er hinterließ, mußte so sein, daß jeder einzelne, sollte ihm doch ein heimlicher Verdacht kommen, sich sagen mußte: Nein, unmöglich, dann hätte er nicht gestern abend noch so über Leskov reden können.
    Und dann die Zeremonie im Rathaus, bei der er, unterwegs zu seiner schrecklichen Tat, zum Ehrenbürger der Stadt gemacht würde. Er wurde von einer zitternden Wut überspült, in die sich Übelkeit mischte, einer Wut auf diesen Carlo Angelini, der ihn mit der ganzen Sache überfahren und dadurch in tödliche Bedrängnis gebracht hatte, und der nun zu allem Überfluß auch noch dieses lächerliche Ritual arrangiert hatte, diese leere Hülse einer übertriebenen Höflichkeit, dieses konventionelle Nichts. Perlmann sah ihn vor sich, den schlanken Italiener im taillierten Jackett, die Krawatte gekonnt locker geknotet. Sein ganzes Aussehen und Auftreten, um das er ihn insgeheim beneidet hatte, kam ihm jetzt nur noch geleckt, pomadig und abstoßend vor. Er krallte sich am Steuer fest und schlug die Stirn dagegen, bis ihn das eigene Hupen zur Besinnung brachte.
    Das Klicken des einrastenden Sicherheitsgurts war bereits Erinnerung, und er hatte die Hand schon am Zündschlüssel, als es ihm einfiel. Der Sicherheitsgurt, ich muß Leskovs Gurt unbrauchbar machen. Er löste den eigenen Gurt, schaltete die Innenbeleuchtung ein und lehnte sich über den Beifahrersitz, um den kleinen Kasten in Augenschein zu nehmen, in dem sich die Rolle des Gurts befand. Die einzig unauffällige Manipulation bestand darin, den schmalen Schlitz, durch den das Band lief, zu blockieren. Aus der Jackentasche holte er eine Handvoll italienischer Münzen. Am ehesten kamen die Einhundert-Lire-Stücke in Frage. Aber sie saßen zwischen Gurt und Kastenwand nur scheinbar fest; wenn man am Gurt zog, kamen sie entweder mit heraus oder, was häufiger passierte, sie rutschten in den Kasten hinein. Perlmanns Bewegungen wurden immer hektischer, er verbrauchte Münze um Münze, und schließlich schob er, hilflos und sich selbst entgleitend wie ein Süchtiger, auch noch all diejenigen Münzen nach, die von vornherein ungeeignet erschienen. Von den vielen Münzen im Kasten schepperte es jetzt ein bißchen, wenn er am Gurt zog; aber das Band lief nach wie vor ungehindert durch den Schlitz.
    Perlmann richtete sich auf, legte den Kopf auf die Nackenstütze und zwang sich durch langsames Atmen zur Ruhe. In der Gesäßtasche spürte er den Geldbeutel, in dem er immer noch das deutsche Geld mitschleppte, obwohl er sich oft vorgenommen hatte, es wegzupacken. Er holte ihn hervor. Die beiden Fünfmarkstücke fühlten sich massiver und dicker an als das italienische Geld, und als er das eine probierte, saß es auch fester und hielt einem ersten Ziehen stand. Doch beim zweiten, etwas energischeren Ruck fiel auch es mit einem leisen Klimpern in den Kasten auf die anderen Münzen.
    Als er in der Jackentasche nach dem Feuerzeug griff, spürte er eine letzte übriggebliebene Münze. Es war ein schmales Zweihundert-Lire-Stück. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und legte die halb geschwärzte Münze aus Messing auf das zweite Fünfmarkstück. Von Hand ließen sich die beiden Geldstücke nicht gleichzeitig in den Schlitz pressen, aber es fehlte nicht viel. Perlmann stieg aus und sah im Kofferraum das Werkzeug durch. Dann öffnete er die Beifahrertür, setzte die beiden Münzen mit Daumen und Ringfinger der linken Hand auf den Schlitz und hielt mit Zeige- und Mittelfinger die Spitze eines Schraubenziehers darüber, auf den er mit einem englischen Schlüssel vorsichtig einschlug. Leichte Schläge blieben ohne Wirkung; wenn er aber fester zuschlug, rutschte der Schraubenzieher ab, und einmal wäre ihm die Messingmünze beinahe in den Schlitz gefallen. Als er sich einmal aufrichtete und den schmerzenden Rücken streckte, kam ein Radfahrer in Arbeiterkleidung und Schirmmütze vorbei, der mit der einen Hand einen Pickel auf der Schulter festhielt. «Buona sera», sagte er mit neugierigem Blick. «Buona sera», wollte Perlmann erwidern, aber er war sich nachher nicht sicher, ob er es tatsächlich ausgesprochen oder nur gedacht hatte.
    Kurz darauf, als der Schraubenzieher erneut abrutschte und den Kasten aus schwarzem Kunststoff

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