Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
nichts von alledem erlebte. Er stand am offenen Fenster, wie immer zwei Schritte hinter der Brüstung, draußen lag die Bucht im feinen Morgennebel, Verkehrslärm, eine Schiffssirene, ein Schleimknoten im Hals vom vielen Rauchen. Weiter nichts.
    Er band die Krawatte um, schlüpfte in den Blazer und setzte sich dann, den Handkoffer neben sich, in den roten Sessel, um zu warten. Einen Ort verlassen, aber noch warten müssen, wie etwa vor einem Abflug: In solchen Momenten, dachte er, hatte es oft geschienen, als könnte Gegenwart auch ihm gelingen. Man hatte dann ein Stück Zeit vor sich, ein, zwei Stunden vielleicht, in denen man nichts zu tun brauchte, man hatte die Ausrede mit dem erzwungenen Warten und konnte sich ganz der Empfindung innerer Freiheit überlassen, die sich entfaltete, wenn man diese Zeit mit vollem Bewußtsein einfach verstreichen ließ. In diesem Zustand hatte er sich jeweils vorgestellt, wie es wäre, hier zu leben und Gegenwart zu erleben; und genau dasselbe hatte er auch getan, wenn er von zu Hause abflog. Die Einbildungskraft brachte dann mühelos zustande, was sonst unerreichbar schien: Indem sie das Bild einer gelebten Gegenwart entwarf, verlieh sie auch dem Augenblick des Entwerfens selbst die Qualität des Gegenwärtigen. Sie war zerbrechlich, diese Gegenwart, und es brauchte Übung im Umgang mit ihr. In dem Augenblick nämlich, in dem man tatsächlich begänne, an jenem Ort zu leben, und sei es auch nur im Flughafen, und nur dadurch, daß man jemandem eine Kleinigkeit verspräche, etwa: auf einen Koffer aufzupassen, oder für ihn Geld zu wechseln – in diesem Augenblick wäre es mit der Gegenwart vorbei. Es war eine Gegenwart neben dem Koffer, und alles hing davon ab, daß nicht die geringste Verpflichtung, nicht einmal ein Gespräch, den Ring von Losgelöstheit, von völlig losgelöstem Warten, durchbrach oder auch nur berührte. Und weil das durch die Art, wie die Menschen in seine Nähe kamen, immer wieder zu geschehen drohte, war er in der Abflughalle mit seinem Koffer rastlos von Platz zu Platz gezogen.
    Jetzt, wo ihm nur noch wenige Stunden zu leben blieben, war alles anders. Die delikate Operation, durch eine vorgestellte Gegenwart hindurch in die wirkliche zu finden, konnte nur gelingen, wenn man eine offene Zukunft vor sich hatte, in die hinein man sich umdichten konnte. Er aber wußte alles über seine erstickend enge und unaufhaltsam schrumpfende Zukunft. Er hätte die ganze Folge der noch kommenden Ereignisse aufschreiben können bis in jede Einzelheit hinein, und deshalb war die Stunde, die bis zum Aufbruch noch blieb, nichts weiter als ein abstraktes, blasses Stück Zeit, vorgezeichnet durch eine unverrückbare, unbeeinflußbare Dimension der physischen Welt, in der sich beobachten ließ, wie die Sonne stieg, und in der man zählen konnte, wie oft jemand unten auf der Uferstraße hupte.
    Langeweile ist es nicht, um Gottes willen, nein, Langeweile darf es nicht sein. Und es war es auch nicht, dachte er erleichtert. Es war ganz anders als damals im Bett mit Kamillentee, Umschlägen und noch einmal demselben Bilderbuch. Denn was dieses Warten hier so entsetzlich leblos machte, war nicht eine Behinderung, eine Einschränkung, ein Mangel an Gelegenheit. Es war eine innere Erstarrung, die er erfolglos zu lösen versuchte, bis er schließlich begriff, daß sie das einzige war, was ihn vor dem Grauen schützte, das lautlos, hoch und blendend aus dem Tunnel auf ihn zurollte.
    Einmal stand er auf, holte zwei Schachteln Zigaretten aus dem Schrank und steckte sie ein. Später ging er ins Bad und wusch sich die Hände. Beim Abtrocknen hielt er auf einmal inne und begann, den Ehering an der rechten Hand abzustreifen. Trotz der Seife, die er zu Hilfe nahm, war es mühsam und tat weh. Er drehte den Ring unschlüssig zwischen den Fingern, dann steckte er ihn in den Koffer zu den Wertsachen. Kirsten würde ihn finden, und er war sicher, daß sie dann an Evelyn Mistral dachte. Gleichgültig war ihm das nicht; aber er spürte, wie der Gedanke an die anderen von Stunde zu Stunde an Einfluß verlor, und nun war er offenbar dabei, sich auch von seiner Tochter zu lösen.
    Kurz vor halb elf trug er den Handkoffer zur Tür. Dann ging er langsam durchs Zimmer. Vor dem Schreibtisch blieb er stehen und rückte den Zettel mit Kirstens Telefonnummer in die Mitte der Glasplatte. Nach einem prüfenden Blick schob er ihn in die rechte untere, dann in die obere Ecke. Er holte das rote Feuerzeug vom runden

Weitere Kostenlose Bücher