Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
die Autobahn? Wir sind vorhin an grünen Schildern vorbeigekommen, da stand AUTO-STRADA drauf. »
«Da ist um diese Zeit ein Wahnsinnsverkehr», sagte Perlmann und holte leise Atem. Jetzt hatte er es hinter sich. Es war zwei Minuten vor halb fünf.
Es kamen ihnen immer noch Lastwagen entgegen. Perlmann fing an, auf ihre Stoßstangen zu starren. Wenn sie vorbeifuhren, drehte er schnell den Kopf und suchte den Benzintank. Ohne sich dagegen wehren zu können, glitt er mit jedem Mal tiefer in die Verfassung hinein, in der er gestern abend im roten Nebel des Hafens über die feuchten Stoßstangen gestrichen hatte, und nach einer Weile spürte er, wie dazu noch die Traumbilder der letzten Nacht ins Bewußtsein drängten.
«Hast du einen Blick in meinen Text werfen können?»fragte Leskov plötzlich. Seine Stimme war verändert, es lag ängstliche Erwartung darin, die ans Unterwürfige grenzte.
Auf diese Frage war Perlmann nicht vorbereitet. Es war unerträglich, schlechterdings unmöglich, jetzt mit Leskov über den unheilvollen Text zu reden, den Text, der alles zerstört hatte und sie beide in wenigen Minuten töten würde. Es war ein so unerträglicher, alle Kräfte übersteigender Gedanke, daß Perlmann wie gelähmt hinter dem Steuer kauerte und durch das Rot des geträumten Nebels hindurch auf die Stoßtange des nächsten Lastwagens starrte, der hoch und weiß auf sie zukam. In wenigen Minuten ist alles vorbei. An diesem verzweifelten Gedanken hielt er sich fest, als er sich – der Lastwagen war vorbei – im Sitz wieder aufrichtete und sagte:
«Ich habe damit angefangen, bin aber über die ersten paar Sätze nicht hinausgekommen. Ich mußte den Text weglegen. Er ist einfach noch viel zu schwer für mich. Vielleicht später einmal. »
«Dann wirst du aber nicht diese erste Fassung lesen, sondern die neue», sagte Leskov, dessen Stimme jetzt wieder selbstsicherer klang.«Ich habe nämlich den Text in den vergangenen Monaten gründlich überarbeitet. Er ist jetzt viel besser. Eigentlich ist es ein ganz neuer Text. Als ich kürzlich wieder einen Blick in die erste Fassung warf, kam sie mir fürchterlich primitiv und verworren vor. Die kann ich jetzt wegwerfen! Ich bin nur froh, daß ich nicht etwa diesen Text eingereicht habe. Der neue Text ist das Beste, das Selbständigste, was mir bisher gelungen ist. Man soll mit dem Wort originell vorsichtig sein; aber ich denke, es gibt einiges darin, was wirklich originell ist. Jedenfalls habe ich das Gefühl, daß es ganz allein aus mir selbst gekommen ist. Ich bin richtig ein bißchen stolz darauf. Auch habe ich die Hoffnung, daß mir diese Arbeit endlich zu einer Stelle verhelfen wird. Es gibt da nämlich gerade eine zu besetzen. »Er habe den Text dabei und werde in der Gruppe darüber berichten. Leider gebe es nur sein handschriftliches Exemplar, das fürs Kopieren viel zu unübersichtlich sei, unleserlich für einen anderen. Sobald es abgeschrieben sei, werde er Perlmann sofort eine Kopie schicken.«Ich bin nämlich ganz sicher», sagte er mit spielerischer Frechheit und berührte Perlmann am Arm,«du kannst diesen Text verstehen. Wenn du dir nur die Zeit dazu nimmst! »
Perlmann wurde übel, und der Magenkrampf war wieder da. Erneut hatte er diese Empfindung von Durchfall. Er schaltete herunter. Der Körper hatte schneller reagiert als der Verstand. Erst jetzt nämlich wurde ihm klar, worin der Schock bestand, den Leskovs Worte ausgelöst hatten: Wenn der Wagen nicht vollständig ausbrannte, würde der erwähnte Text hinten im Kofferraum den Aufprall überleben, man würde ihn finden, und dann bestand die Möglichkeit, daß der Betrug doch noch aufgedeckt wurde – mit allen Folgen, die das auch für die Erklärung des scheinbaren Unfalls hätte. Das konnten auch die Änderungen in der zweiten Fassung nicht verhindern. Gewiß, sagte er sich zum wiederholten Male, im Hotel konnte niemand Russisch. Aber wenn die Sachen der Toten nach der Identifizierung im Hotel waren, dann konnte es geschehen, daß die beiden Texte, der russische und der englische, zusammen in ein und demselben Raum zu liegen kamen, vielleicht sogar auf ein und demselben Tisch, unmittelbar nebeneinander, Blatt an Blatt. Und die bloße Möglichkeit, der bloße Gedanke, daß jemand an diesen Tisch treten könnte, der beide Sprachen beherrschte, trieb Perlmann den Angstschweiß auf die Stirn.
Vor dem Tunnel kam noch eine Tankstelle. Dort mußte er Leskovs Manuskript beseitigen, es im Schutze des
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