Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
handschriftlich, was sollte er machen, es war zum Verzweifeln. Er riß den Reißverschluß zum Außenfach auf. Es enthielt ein einziges Manuskript, einen dicken Stoß blaßgelber Blätter, zusammengehalten von einem roten Gummiband. Er zerrte es heraus, das Gummiband verfing sich im Reißverschluß und riß. Das war der Text, handschriftlich, die Überschrift in sorgfältigen, beinahe kalligraphischen Buchstaben: O ROLI JAZYKA V FORMIROVANII VOSPOMINANIJ. Den Titel hatte er also nicht verändert. Mit zitternden Fingern zog Perlmann die beiden Reißverschlüsse zu und hakte die Riemen ein. Dann beugte er sich unter dem Geschimpfe eines Autofahrers, der wegen des Gegenverkehrs nicht überholen konnte, bis auf die Straße hinunter und legte den Papierstoß unter den Auspuff. Er knallte den Deckel des Kofferraums zu und stieg ein.
«Es war nochmals wegen der Reifen», sagte er, ohne den Kopf zum Beifahrersitz zu drehen. Jetzt kam es darauf an, daß Leskov nicht in den Außenspiegel sah.«Da drüben, links, wird ein berühmter Wein angebaut», sagte er und fuhr mit einem Ruck an, die Augen auf den Rückspiegel gerichtet.
Der Text, von dem es nur dieses eine Exemplar gab, die Fassung, auf die Leskov so stolz war und die ihm beim beruflichen Fortkommen helfen sollte, die Arbeit von Monaten, flog auseinander, die gelben Blätter wirbelten hoch und leuchteten im Scheinwerferlicht der anderen Autos, sie tanzten und segelten dann ins Dunkel der seitlichen Böschung. Der Wagen hinter ihm versuchte, den flatternden Blättern auszuweichen, als seien es schwere Körper, und das nachfolgende Auto schien genau über den restlichen Papierstoß gefahren zu sein, denn es gab abermals eine Blätterwolke. Dann fuhren sie um die Kurve, und die Blätter verschwanden aus Perlmanns Gesichtsfeld. Leskov hatte die dicken Brillengläser schräg gestellt und blickte immer noch nach links den Hang hinauf.
«Nicht mehr viel zu erkennen», sagte er.
]etzt können es nur noch drei oder vier Kurven sein. Mit einemmal wußte Perlmann nicht mehr, ob er Gas geben oder herunterschalten sollte. Gerade wurde es fünf Uhr vier. Gestern vor dem Tunnel, als er es am liebsten sofort getan hätte, war ihm die verbleibende Zeit als Hindernis erschienen, als ein Medium, das er Minute für Minute mit schweren Beinen durchwaten mußte. Und auch im Rathaus war ihm jede Bewegung wie etwas erschienen, das man gegen den Widerstand der zähflüssigen Zeit hinter sich bringen mußte. Auf der Fahrt hierher dann war es umgekehrt gewesen, die Zeit war ihm davongelaufen, die Minuten verrannen in rasendem Tempo, es war eine Fahrt gegen die Uhr gewesen, gegen die viel zu schnell wechselnden Zahlen auf der Digitalanzeige des Armaturenbretts. Jetzt, genau in dem Moment, in dem er die restlichen Kurven zählte, spürte Perlmann, wie sich in der Tiefe etwas veränderte, umschichtete, verschob: Auch jetzt noch wollte er die Zeit anhalten, mit aller Macht sogar; aber es war ganz anders als bisher, denn zugleich wollte er auch die Straße anhalten, die unter ihm weg nach hinten rollte, wo er sie nie mehr sehen würde. Er wollte weder im Raum noch in der Zeit beim Tunnel ankommen. Kostbar war die Zeit auf der ganzen Fahrt schon gewesen, weil es doch nach halb fünf weniger wurde, c’e meno. Aber jetzt war dieselbe Zeit auf einmal in einem ganz anderen, umfassenderen Sinne kostbar. Sie drängte in Perlmanns Bewußtsein als die letzte kurze Strecke seines Lebens, als eine überschaubare Reihe von Minuten, die erbarmungslos und unaufhaltsam wegtickten und dadurch das endgültige Dunkel und die endgültige Stille näher brachten.
Direkt hinter ihnen blendete ein riesiger Laster die Scheinwerfer auf, und jetzt hörte Perlmann auch das harte, bedrohliche Geräusch des Dieselmotors. Er erschrak, doch es war ein sonderbares, nie gekanntes Erschrecken, denn es öffnete sich sofort dem heiß aufbrechenden, fast wohligen Verlangen, der Laster möge sie mit seinem Licht, seinem Lärm und seinen Tonnen einfach überrollen und auslöschen. Er beschleunigte, nahm die nächste Kurve und sah das Übersichtsschild mit den Pfeilen nach Piacenza und Chiävari. Im Rückspiegel kam die hohe Front des Lastwagens rasch näher, er hörte den Fahrer Gas geben und schalten, jetzt waren sie auf der Kreuzung und sahen den Tunnel, der Lastwagen dröhnte und nahm Anlauf für das gerade Stück durch den Berg, Perlmann trat das Pedal durch, fuhr weit nach rechts auf den Kiesplatz hinaus und hielt mit rutschenden
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