Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
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Etwas stimmte nicht. An das langgezogene rote Gebäude dort vorn konnte er sich nicht erinnern. Der Schweiß brach ihm aus. Er sah hinüber zu den Rolläden, wandte sich dann um und blickte zurück. Einen atemlosen Moment lang wußte er nicht, was los war. Dann verstand er: Er hatte auf heruntergelassene Rolläden gewartet. Das Bild der rostigen Flächen war in seiner Erwartung einzementiert und war unbeeinflußt geblieben von der Wahrnehmung, daß die anderen Geschäfte heute offen waren. Die erste Eisenwarenhandlung war aber ebenfalls offen, es gab keine Rolläden, die ganze Straßenecke sah dadurch völlig anders aus, und so war er, ohne etwas zu merken, vorbeigefahren bis zum zweiten Geschäft, das die Rolläden nach wie vor unten hatte.
Er trat mit voller Wucht auf die Bremse, riß das Steuer herum und bog vor den Rolläden ab. Hinter ihm und auf der Gegenfahrbahn quietschten Reifen, es wurde gehupt, und der Fahrer, dem er haarscharf vor der Nase vorbeigeflitzt war, tippte an die Stirn. Perlmann hielt an und griff nach einer Zigarette.«Entschuldigung», sagte er und schloß während des Lungenzugs die Augen.
Jetzt bewegte sich Leskov ächzend und suchte nach dem Sicherheitsgurt. Perlmann erstarrte.
«Dieser Gurt ist kaputt», sagte er tonlos, und dann, als Leskov am Riemen zu zerren begann, wiederholte er lauter als nötig:«Der Gurt auf dieser Seite ist kaputt. »
Mühsam drehte sich Leskov wieder zu ihm herum und sah ihn ruhig an.«Du bist blaß», sagte er in seinem väterlichen Ton,«das ist mir schon vorhin aufgefallen. Ist etwas nicht in Ordnung?»
«Nein, nein», sagte Perlmann hastig und ließ den Motor wieder an,«ich fühle mich nur heute nicht besonders. -Aber jetzt etwas anderes: Wie war das nun eigentlich mit der Ausreiseerlaubnis?»
Trotz der Umwälzungen an der politischen Spitze des Landes sei in großen Teilen der Verwaltung noch alles beim alten, berichtete Leskov und ließ sich wieder ganz in den Sitz zurückfallen, während Perlmann langsam weiterfuhr und spürte, wie sich der Puls beruhigte.
«Da sitzen immer noch dieselben Leute an denselben Schreibtischen. Und die schwarzen Listen gibt es auch noch», sagte er mit einer Nüchternheit, in der Erfahrung und Leid mitschwangen. Mit den neuen Gesetzen zur garantierten Reisefreiheit werde es dauern. Und deshalb habe er den erneuten Antrag ohne Illusionen gestellt. Diesmal habe er es über den Rektor der Universität getan, und das scheine genützt zu haben, obwohl er ihn bisher für keinen mächtigen Mann gehalten habe. Jedenfalls sei dann am Freitag in aller Frühe ein Anruf gekommen: Er könne seinen Paß mit der Genehmigung abholen. Leskov holte eine armeegraue Brieftasche aus Wachstuch hervor, zog den Paß heraus und betrachtete den Genehmigungsstempel.
«Genau eine Woche haben sie mir gegeben», sagte er bitter. «Keinen Tag mehr. Sonntag abend muß ich wieder in Moskau sein. »Er holte seine Pfeife hervor und stopfte sie umständlich.
An der Stelle, wo man die Straßenbahnschienen verlassen mußte, waren sie inzwischen vorbei. Perlmann hatte es richtig gemacht, unangenehm war nur gewesen, daß er wegen einer entgegenkommenden Straßenbahn, die von einem falsch abbiegenden Auto blokkiert wurde, für eine Weile den gesamten Verkehr hinter sich hatte aufhalten müssen.
Jetzt kam das erste Umleitungsschild. Perlmann war erleichtert, daß der Verkehr auch hier floß, er dachte an die Bäckerei im gelben Haus, folgte der Autokolonne um die Kurve beim großen Hotel und steckte mit einem Schlag mitten in einem Stau, wo wütend gehupt iwurde und einige Fahrer vor Ungeduld bereits ausgestiegen waren und mit den Fingern aufs Dach trommelten. Die Uhr zeigte eine Minute nach vier. Sie hat nicht gesagt, daß nach halb fünf überhaupt keine Lastwagen mehr kommen, sondern nur, daß es weniger wird, c’è meno. Es können immer noch welche kommen.
Leskov hatte den elektrischen Fensterheber entdeckt und freute sich darüber wie ein Kind. Überhaupt, sagte er, das sei ja ein Traum von einem Auto. Perlmann wechselte abrupt das Thema und fragte ihn nach dem Flug.
Den zu organisieren sei ein ziemliches Drama gewesen, sagte Leskov lachend, und während Perlmann vorn auf dem Armaturenbrett sah, wie die Minuten verrannen, erzählte er, wie er bei Freunden hatte Geld borgen müssen, wie es im Reisebüro und danach auf dem Telegrafenamt stundenlang gedauert hatte und wie er dann gestern nach Moskau geflogen war, wo er bei Larissas Familie
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