Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Schritte nach vorn und sah auf das Nummernschild.«Mietwagen?»
«Ja», sagte Perlmann und schluckte.
«Brauchen Sie Hilfe? Sollen wir einen Krankenwagen rufen?»
«Nein, nein», preßte Perlmann hastig hervor,«vielen Dank, aber es geht schon wieder. »
«Dann müssen Sie jetzt aber weiterfahren», meinte der Polizist und sah ihn einen Blick lang nachdenklich an.«Gleich hinter dem Tunnel kommt ein Parkplatz. »Dann tippte er an die Mütze und richtete sich auf.
« Va bene», sagte Perlmann. Sonst tat er nichts.
Für die Länge des Augenblicks, den der Polizist brauchte, um seinen Wagen zu erreichen, empfand Perlmann den Zwischenfall als Erlösung. Er war ganz nahe daran, sich zu ergeben, nur um die entsetzliche Anspannung nicht mehr länger ertragen zu müssen. Diese Polizisten würden ihn davor bewahren, ein Mörder zu werden. Er brauchte jetzt nur den Zündschlüssel zu drehen, den Gang einzulegen und mit Leskov zum Hotel zu fahren. Weiter nichts.
Doch das Bild des verhaßten Hotels, das jetzt vor ihm auftauchte, hinderte ihn daran. Er sah sich neben Leskov, der seinen fleckigen Koffer schleppte, die Freitreppe hinaufgehen und an die Empfangstheke treten, hinter der aus Leskovs Schlüsselfach der betrügerische Text herausragte, den Millar hatte hineinlegen lassen. Abermals verbarg er das Gesicht in den Händen. Er konnte jetzt nur hoffen, daß die Carabinieri nicht das taten, was Polizisten zu Hause tun würden: warten, bis er tatsächlich weiterfuhr.
«Was wollte er?»fragte Leskov.
Perlmann schwieg.
Der Polizist nahm die Mütze ab und stieg ein. Er hatte nicht zurückgeblickt. Der Wagen blieb stehen. Der Fahrer würde sie jetzt im Rückspiegel beobachten. Jetzt zündete der Beifahrer eine Zigarette an, blies den Rauch zum Fenster hinaus, legte den Arm auf den Rahmen, die beiden lachten, und dann fuhr der Wagen mit einem Kavaliersstart an. Sie werden bezeugen, daß mir schlecht war. Das ist gut. Es war zwanzig vor sechs.
Solange die Polizisten in Sichtweite waren, gab es für den Blick einen Halt. Als die Schlußlichter in der Nacht verschwanden, wurde es im Tunnel leer und still. Perlmann hätte gerne die letzte Zigarette angezündet, er hatte ein Verlangen danach wie noch nie zuvor. Aber das konnte er nicht riskieren; er wollte es nicht mit einer Zigarette in der Hand tun. Aus den Augenwinkeln sah er Leskovs massige Beine in der braunen Hose, die knöchelhohen Schuhe mit der dicken Sohle und die im Schoß gefalteten Hände mit dem gelben Daumen und dem Schwarz unter dem Nagel. Die Zeitspanne, während derer zwei Menschen in einem stehenden Auto nebeneinandersitzen können, ohne sich anzublicken, war längst überschritten. Perlmann versuchte krampfhaft, das Unmögliche herzustellen: die absolute Beziehungslosigkeit zweier Menschen, die nur zwei, drei Handbreit voneinander entfernt saßen. Er spürte, wie Leskov ihn ansah, und schloß die Augen. Die Kopfhaut juckte, und die Nase fing an zu laufen. Er war froh, etwas tun zu können, und griff mit der eiskalten Hand zum Taschentuch.
«Du mußt noch oft an Agnes denken, nicht wahr?»sagte Leskov in die Stille hinein.
Durch alle Kälte und Angst hindurch flammte in Perlmann eine ungeheure Wut auf, eine Wut über den betont milden, fast zärtlichen Ton, den Leskov angeschlagen hatte, einen Ton, wie man ihn Kindern gegenüber anschlägt, oder Kranken. Doch viel mehr noch war es eine Wut darüber, daß dieser fette, abstoßende Mensch neben ihm, der an allem schuld war, überhaupt von Agnes zu reden wagte und es sich herausnahm, an diese offene Wunde zu rühren und ihn damit in seinem Innersten zu treffen. Und es war auch eine Wut über sich selbst, darüber, daß er damals in der eisigen Luft von St. Petersburg ohne jeden Grund dieses Stück seiner selbst preisgegeben hatte. Diese Wut tat, als sei er mitten im Leben und nicht an seinem alleräußersten Rand, sie brach sich Bahn und durchströmte ihn, als gäbe es keinen Tunnel voll von tödlicher Stille und kein Warten auf weißglühende Lichter in einer hohen, herandonnernden Front. Es war eine so heftige Wut, daß sie ihn förmlich betäubte. Er vergrub das Gesicht im Taschentuch, und nun entlud sich die Wut ins Schneuzen hinein, er schneuzte sich immer weiter, obwohl das ganze Taschentuch vom Rotz längst feucht war und ihn anwiderte, ein Atemstoß war heftiger als der vorangehende, jeder Anlauf noch größer als der letzte, aber alles vergebens, die Nase lief weiter, von irgendwoher kam immer neuer
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