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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Empfindung: das Gefühl, nicht zu wissen, wohin er mit sich sollte. In Gedanken konnte er sich an jede mögliche Stelle, in jeden Winkel des Universums versetzen – stets empfand er genau dasselbe: Ich habe kein Recht, hierzusein. Es kam ihm vor, als müsse er dieser gnadenlosen, vernichtenden Empfindung jeden Atemzug einzeln abtrotzen. Da ga.b es diesen Punkt, von dem alles Erleben ausging und zu dem alles zurückfloß, dieses innere Zentrum, das er fortwährend mit sich herumtrug. Perlmann machte stets von neuem den Versuch, sich ganz in dieses Zentrum zurückzuziehen und in seiner innersten Mitte Fuß zu fassen, um zwischen sich und die übermächtigen, alles überwölbenden Empfindungen von Schuld und Scham ein kleines Stückchen Abstand zu legen, eine Distanz, die es ihm erlaubt hätte zu sagen: Ich bin doch auch noch etwas anderes; ihr könnt mich doch nicht nur im Lichte dieses einen Vergehens beurteilen. Aber Versuch um Versuch mißlang, Schuld und Scham blieben ihm auf den Fersen, wohin er sich auch wandte, sie folgten ihm ins Innerste wie ein Schatten. Er versuchte sich wegzuducken und immer nochmals einen Schritt zurück und nach innen zu tun, aber es gab kein Entrinnen. Er sagte sich und preßte dabei die Fäuste an die Schläfen, daß er doch auch eine Vergangenheit hatte und daß es darin Dinge gab, die er richtig gemacht hatte. Aber auch das nützte nichts, die Empfindungen, die ihn wie in einem Würgegriff hielten, ließen diesen Appell, diese Verteidigung nicht gelten.
    Erschöpft von allen vergeblichen Versuchen, sich zu behaupten, kam es ihm schier unmöglich vor, auch die nächste Sekunde noch zu überstehen, die zudem endlos auf sich warten ließ. Und das war etwas ganz anderes als die Dehnung der Zeit in der Angst und Ungewißheit vor einer Entscheidung. Da dehnte sich die Zeit auf ein Ziel hin, man wußte, daß sich die Spannung irgendwann lösen würde, selbst bei ungutem Ausgang, und daß man dann wieder in den normalen Fluß der Zeit, in ihr normales Tempo, zurückfinden würde. Jetzt dagegen gab es kein Ziel und keine Ungewißheit, und deshalb gab es auch keine Hoffnung mehr, daß er sich bald wieder der Selbstverständlichkeit und Unauffälligkeit des zeitlichen Fließens würde überlassen können. Seine private Zeit jenseits aller Gegenwart, die gestern morgen aus dem tödlichen Vorsatz hervorgegangen war, hatte sich irgendwo hinter dem Tunnel in nichts aufgelöst, und er sehnte sich danach, in die gewöhnliche, die geteilte Zeit zurückzukehren. Aber auch das war nun nicht mehr möglich. Denn jene Zeit führte in eine offene Zukunft hinein; für ihn aber gab es keine Offenheit der Zukunft mehr. Die Entdeckung des Betrugs durch die anderen schloß seine Zeit gewissermaßen ab, mauerte sie zu, beendete sie als etwas, in dessen Verlauf sich das eigene Erleben entwickeln konnte. Die Zeit war nun nur noch dies: eine Abfolge von trägen, gedehnten Momenten, die keine Möglichkeiten mehr in sich bargen. Jeder einzelne dieser Momente war in seinem puren Vergehen abzuwarten, einer nach dem anderen, in alle Ewigkeit und ohne jede Hoffnung. Es war die Hölle.
    Er wäre am liebsten in eine tiefe Bewußtlosigkeit gefallen, in der es kein Zentrum des Erlebens mehr gab und damit niemanden mehr, dessen Anwesenheit unrechtmäßig war. Aber schon in der nächsten Minute konnte Leskov ihn anrufen oder an die Tür klopfen. Er war zerstreut gewesen, als er den Text entgegennahm; aber inzwischen war er in seinem Zimmer und brauchte sich wegen des Gepäcks keine Sorgen mehr zu machen. Vielleicht nahm er zuerst eine Dusche, zog sich um und sah dann noch einmal auf die Bucht hinaus. Es konnte auch sein, daß er wegen des Abendessens mit all den Kollegen aufgeregt war und den Text vorerst einfach zur Seite legte. Aber ebensogut war es möglich, daß er den Blätterstoß im Lift sofort entrollt und einen ersten Blick auf den Text geworfen hatte. Die geänderte Überschrift hatte für den ersten Moment Schutz geboten, und auch sonst hatte er ihn nicht sofort als seinen Text erkannt, immerhin war es Englisch und also verfremdet. Später dann hatte es in seinem Kopf eine Sperre der Ungläubigkeit gegeben, die sich nur allmählich löste, während er immer weiter las, bis sich die anfänglich vage Empfindung der Vertrautheit zur Gewißheit verdichtete. Das könnte jetzt sein. Genau jetzt.
    Unterwegs hatte sich Perlmann vorgestellt, daß Leskov schon in diesem Moment die volle Wahrheit erkannte. Aber das war, dachte

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