Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
er jetzt, nicht die naheliegende Annahme. Da Perlmanns Name nicht draufstand, würde Leskov keinen Augenblick an Plagiat denken. Er mußte statt dessen annehmen, Perlmann sei die perfekte Überraschung gelungen, indem er auf der Fahrt zunächst erklärt hatte, der russische Text sei noch viel zu schwer für ihn, um ihm dann hier ohne jeden Kommentar die Übersetzung zu überreichen, die er angefertigt hatte. Er mußte sich geschmeichelt, eigentlich fast überwältigt fühlen bei der Vorstellung, daß ein Mann wie Philipp Perlmann die viele Zeit aufgewendet hatte, um einen derart umfangreichen Text zu übersetzen. Er mußte die Arbeit für bedeutend halten, für hervorragend, anders war das ja nicht zu erklären. Aufgeregt und voller Dankbarkeit würde Leskov zum Telefon greifen oder hier heraufkommen, Perlmann konnte das Klopfen beinahe schon hören. Oder aber es ging ihm durch den Kopf, wie schade es war, daß es sich nicht um eine Übersetzung der zweiten, viel besseren Fassung handelte. Er griff ins offene Außenfach des Handkoffers und erstarrte. Er konnte es nicht verstehen und wühlte den ganzen Koffer durch, immer wieder. Aber er argwöhnte nichts, im Gegenteil, er war Perlmann von neuem überschwenglich dankbar für das Geschenk, denn nun konnte er wenigstens die erste Fassung präsentieren. Und wieder war es Perlmann, als höre er auf dem Flur bereits Leskovs Schritte.
Hier konnte er nicht bleiben. Er müßte sich taub stellen und jedes einzelne Klingeln, jedes einzelne Klopfen zitternd über sich ergehen lassen. Und Leskov würde es lange versuchen und immer wieder, denn Signora Morellis Auskunft zufolge hatte er das Zimmer nicht verlassen. Er stand auf, und ohne es recht zu merken, war er froh darüber, daß er kurzfristig ein Ziel hatte, wenngleich ein unklares.
Er zog die Schuhe aus, und erst jetzt, als der Druck nachließ, kam ihm zu Bewußtsein, daß ihm die Zehen seit vielen Stunden weh taten und durch den dumpfen Schmerz zu einem einzigen gefühllosen Klumpen geworden waren. Aber zum Massieren blieb keine Zeit. Hastig schlüpfte er in die andere Hose und war gerade dabei, das frische Hemd hineinzustopfen, als er merkte, daß das ja die Hose mit dem aufgerissenen Bein war. Jetzt blieb ihm nur noch die helle Hose, selbst im Süden viel zu leicht für eine Nacht im November. Für einen Gürtel war keine Zeit, Leskov war unterwegs, Pullover und Jacke, glücklicherweise hatte er heute früh das Zahlenschloß am Koffer nicht verstellt, Geld, Reiseschecks und Kreditkarten, die Zigaretten, noch etwas kaltes Wasser ins Gesicht, die Packung mit den Schlaftabletten, er ließ sie in die Hosentasche gleiten ohne einen Gedanken, es war wie ein Reflex. Erst unter der Tür sah er auf die Uhr: zwei Minuten nach halb neun. Er schloß die Tür wieder. Mindestens fünf Minuten mußte er warten, sonst lief er womöglich den anderen in die Arme.
Also hatte Leskov noch nicht gelesen. Oder er hatte vor, ihm beim Essen für die Übersetzung zu danken, laut und unüberhörbar für alle anderen. Als Perlmann zum Fenster ging, sah er auf dem Schreibtisch den Zettel mit Kirstens Adresse. Er war verrutscht, und auch das rote Feuerzeug auf dem runden Tisch lag anders als heute morgen. Das Zimmermädchen.
Spätestens jetzt setzten sie sich alle zu Tisch. Leskov war unruhig und trotz Dankbarkeit ein bißchen ärgerlich, daß sein Gastgeber nicht endlich kam, um ihn einzuführen. Millar war empört über dieses abermalige gesellschaftliche Versagen von Perlmann, heute wenigstens hätte er einmal pünktlich sein können. Er zögerte nicht, ersatzweise die Rolle des host zu spielen – Perlmann hörte ihn dieses Wort sagen, selbstgerecht und anklagend. Vielleicht aber war ihm Angelini zuvorgekommen und hatte mit gewandter Liebenswürdigkeit die Regie übernommen.
Perlmann verschob Kirstens Feuerzeug ein bißchen und rückte den Zettel mit ihrer Adresse zurecht. Er hatte gerade die Tür geöffnet, als es ihm einfiel: der Text. Er mußte den Text beseitigen, den er heute morgen unters Telefonbuch getan hatte. Der Gedanke war nicht das Ergebnis einer Überlegung, keine Folgerung aus etwas anderem, er war plötzlich einfach da und mit ihm ein unwiderstehliches Bedürfnis, diesen Stoß Blätter beiseite zu schaffen. Er nahm ihn aus der Schreibtischschublade. Sein Atem ging schneller, wohin damit, so ungeschützt konnte er ihn nicht durchs Hotel tragen. Sein Handkoffer war noch im Auto. Schließlich klemmte er ihn zwischen die Deckel
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