Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
der großen Hotelmappe mit der Speisekarte, den Prospekten und dem Briefpapier. Die Hand auf der Klinke, wandte er sich noch einmal um: Was immer jetzt geschehen mochte, dieses Zimmer würde er nie mehr betreten. Er hatte keine Ahnung, was aus seinen Sachen würde, den Kleidern, Büchern und Papieren-wohin sie getragen würden und von wem. Er wußte nur dieses eine: Hier, in diesem Hotel, würde er niemals mehr jemandem unter die Augen treten.
Als die Tür ins Schloß fiel, klingelte drinnen das Telefon. Sie haben begonnen, mich zu suchen. Ungesehen gelangte er zum Hinterausgang.
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Hinter dem Felsvorsprung, wo man den Widerschein der Stadtlichter nicht mehr sah, wurde es bald sehr dunkel, und die ruhige, schwarze Fläche des Wassers wirkte auf Perlmann wie eine stumme Drohung. Drüben bei Sestri Levante floß ein unaufhörlicher Lichterstrom, und weit draußen war ein Schiff zu erkennen, an dessen Bug ein Licht rhythmisch blinkte. In den langen Pausen zwischen den vereinzelten Autos hörte er auf das leise Rauschen der kleinen Wellen, und die Erschöpfung, die ihn gefühllos machte, half ihm, an nichts zu denken. Einmal schrak er auf, als hinter ihm ein junges Paar vorbeiging, das sich eng umschlungen hielt. Und erst jetzt, als ihm die Hotelmappe beinahe übers Geländer gerutscht wäre, wurde ihm bewußt, wie absurd, wie vollständig widersinnig es gewesen war, sein Exemplar von Leskovs Text aus dem Hotel zu schmuggeln, wo doch die anderen alle ein Exemplar in Händen hielten. ]etzt verliere ich schon bei den einfachsten Dingen die Übersicht, sagte er in die Nacht hinaus, und es beschlich ihn die unheimliche Empfindung, daß seine Gedanken aus den Fugen gerieten und seine Fähigkeit zu denken lautlos zerfiel.
Er begann zu frieren. Die Richtung weiter nach Portofino kam nicht in Frage, dort waren die Katze mit dem geteilten Gesicht und der Wirt in Hosenträgern, der an die Tür schlug. Außerdem war es in dieser Richtung dunkel, dunkel und kalt. Perlmann ging mit zögernden Schritten zurück zum Felsvorsprung, die Mappe unter dem Arm, die Hände in den Taschen. Er sah hinüber zu den Hotels und weiter zur Stadt und ihren Lichtern wie einer, der an der Schwelle zu einer verbotenen Welt steht.
Das MIRAMARE sah aus wie auf einem Werbeprospekt, elegant, die Beleuchtung des Säulenvorbaus und das Licht der Scheinwerfer in den Pinien machten es geheimnisvoll, verlockend, verführerisch, dazu die weiße Leuchtschrift auf königsblauem Grund – Filmbilder, Traumbilder. Die vorderen Fenster des Speisesaals waren von hier aus durch die Säulen verdeckt, aber durch das hinterste meinte er einen Kronleuchter zu erkennen.
Er konnte weder nach vorn in diese funkelnde Welt noch zurück ins Dunkel. Es kam ihm vor, als könne er in seinem Leben keinen einzigen Schritt mehr tun, als sei er verdammt, für immer an genau dieser einen Stelle stehenzubleiben.
Vor dem Hotel REGINA ELENA hielt ein Taxi, und der Fahrer half einer alten Frau beim Aussteigen. Perlmann rannte, als gelte es, das letzte Taxi auf dieser Erde zu ergattern. Die Mappe war hinderlich, die Deckel strebten wegen der Dicke des Texts auseinander, er winkte und rief, und als er atemlos anlangte, hatte der Fahrer schon den Motor angelassen. Er stieg hinten ein und gab als Ziel das Hotel IMPERIALE an. Als sie am MIRAMARE vorbeifuhren, schirmte er den Kopf mit der Hotelmappe ab und kam sich dabei vor wie in einem billigen Kriminalfilm voller Kitsch und Klischees. Auf der Steigung vor dem IMPERIALE fiel ihm ein, daß er das Hotel nicht mit der Mappe betreten konnte, auf der in großen, goldenen Lettern MIRAMARE eingraviert war. Er nahm den Text heraus und schob die Mappe von hinten unauffällig unter den Beifahrersitz.
Die Sitzgruppe am Fenster, wo er mit Kirsten gesessen hatte, war von einer Reihe elegant gekleideter Leute besetzt, die etwas feierten, Champagner tranken und gerade laut lachten, als Perlmann eintrat. Er setzte sich in die dunkle Ecke, wo offenbar die Lampe kaputt war, und bestellte einen Whisky, zusammen mit einem Mineralwasser. Das hatte Kirsten besonders beeindruckt: daß es einen Kellner gab, der den langen Weg von der Bar hierher machte, um zu bedienen. Man kommt sich so wichtig vor, und reich, hatte sie gesagt, und er hatte ihr angesehen, wie der Spaß am Mondänen mit anderen, gegenläufigen Einstellungen in Konflikt geriet, die sie seit längerem äußerte und die für ihre Generation typisch waren.
Er legte Leskovs Text mit der
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