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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Schrift nach unten auf den niedrigen Marmortisch und zündete eine Zigarette an. Nach den beiden Packungen, die er heute geraucht hatte, fühlte sich die Lunge verdreckt und verklebt an, und vorhin im Taxi hatte das trockene Husten sehr weh getan und überhaupt nicht mehr aufhören wollen. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Hunger hatte er nicht, aber es war ihm flau im Magen, und eine sonderbare, nie gekannte Schwäche im ganzen Körper gab ihm das widersinnige Gefühl, in dem tiefen Plüschsessel mit den hohen Armlehnen unsicher zu sitzen. Als der Kellner die Getränke brachte, bestellte er ein belegtes Brot. Er würde es nur mit Mühe hinunterwürgen können. Aber etwas zu sich nehmen mußte er.
    Noch nie zuvor war es ihm zugestoßen, daß er in dieser Weise nicht die geringste Ahnung hatte, wie es in den nächsten Minuten mit seinen Gedanken, wenn denn überhaupt noch welche kamen, weitergehen würde. Es war keine Blindheit, kein Brett vor dem Kopf, sondern das Empfinden der Ausweglosigkeit, das sich auf die Phantasie senkte wie Mehltau, sie mit einem milchigen, undurchdringlichen Weiß überzog und vollständig lähmte. Trotzdem: Jetzt, am Ende, aus purer körperlicher Schwäche heraus einen Fehler machen, das wollte er nicht.
    Fünf vor halb zehn. Jetzt wußten sie es alle. Während des Essens war die Rede auf die morgige Sitzung gekommen, und Leskov hatte sich erkundigt, ob es dafür eine schriftliche Vorlage von Perlmann gebe, er habe auf der Fahrt vergessen, ihn danach zu fragen. Millar hatte verwundert aufgeblickt. Er selbst habe ihm ein Exemplar von Perlmanns Text ins Fach legen lassen, und er, Leskov, habe es doch vorhin bei ihrer Begrüßung in der Hand gehalten. Nein, nein, hatte Leskov verdutzt erwidert, dabei habe es sich um etwas ganz anderes gehandelt, um eine Überraschung, die Perlmann für ihn bereitgehalten habe: eine englische Übersetzung eines Texts von ihm. Er sei völlig perplex gewesen bei der Entdeckung, welche ungeheure Mühe sich Perlmann da gemacht habe, und er könne es eigentlich noch immer kaum glauben. Eine derart überwältigende Freundlichkeit! Auch scheine es eine vorzügliche Übersetzung zu sein; nur beim Titel habe sich Perlmann merkwürdigerweise vertan. Er sei ihm auch deshalb noch besonders dankbar, weil er ihnen allen nun etwas Schriftliches von sich in die Hand geben könne, zumal ihm ein fürchterlicher Lapsus passiert sei, indem er einen anderen Text, über den er hier habe berichten wollen, nämlich die neue Fassung des von Perlmann übersetzten, zu Hause in St. Petersburg habe liegenlassen, obwohl er schwören könnte, ihn eingepackt zu haben. Aber das sei ja nun nicht so schlimm, er könne die Veränderungen gegenüber der ersten Fassung mündlich erläutern. Gleich morgen früh werde er darum bitten, daß für alle Kopien gemacht würden, als Vorbereitung für die Sitzung, die er bestreiten solle, am Donnerstag, wie Perlmann ihm gesagt habe.
    Zunächst, dachte Perlmann, gab es eine Pause. Evelyn Mistral verstand jetzt, warum er sein Russisch hatte geheimhalten wollen. Er sah ihr lachendes Gesicht, als sie von ihrer Komplizenschaft erzählte. Die Verwirrung wäre erst später entstanden, wenn sie sich klargemacht hätte, daß diese Geheimhaltung unlogisch war: Wenn es Leskov war, den er überraschen wollte: Warum durften es dann die anderen nicht wissen? Und wenn das Versteckspiel der Überraschung bei Leskovs Ankunft dienen sollte: Warum hatte er es dann schon wochenlang vor dem Telegramm gespielt, als er noch gar nichts von dieser Ankunft wissen konnte? Aber zu diesen Fragen war es dann gar nicht mehr gekommen.
    Es war Achim Ruge, stellte sich Perlmann vor, der die alles entscheidende, die vernichtende Frage stellte. Er stellte sie ganz trocken und kostete – ein Zeichen der gespannten Vorahnung – seine schwäbische Aussprache aus: Wie denn der Titel von Perlmanns Übersetzung laute, bei dem er sich derart vertan habe? THE PERSONAL PAST AS LINGUISTIC CREATION, sagte Leskov. Ein krasser und irgendwie auch unverständlicher Übersetzungsfehler, aber ein schöner Titel, viel schöner als sein eigener, und treffend. Er werde Perlmann um Erlaubnis bitten, ihn in Zukunft benützen zu dürfen, natürlich mit dem entsprechenden Hinweis auf ihn.
    Es war ganz still geworden am Tisch, dachte Perlmann, unheimlich still. Er sah die anderen, wie sie im Essen innehielten und vor sich auf den Teller blickten. Sie trauten ihren Ohren nicht; das, was aus dieser Mitteilung

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