Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
folgte, war zu ungeheuerlich. Sie sahen sich zunächst nicht an, jeder überlegte für sich allein, ob es nicht eine andere, eine harmlose Erklärung gab.
«Sie meinen also», fragte Millar nach einer Weile mit gefährlicher Langsamkeit,«daß der Text mit der Überschrift THE PERSONAL PAST AS LINGUISTIC CREATION ein Text ist, den Sie verfaßt haben und den Perlmann lediglich übersetzt hat?»
«Eh... ja, so ist es», antwortete Leskov unsicher, verwirrt und alarmiert durch Millars Tonfall und die abgehackten, stechenden Bewegungen, die er dabei mit dem Messer machte.
Die erneute Stille mußte betäubend gewesen sein.
«Das ist unglaublich», murmelte Millar,«einfach unglaublich.»Leskovs fragenden Blick auffangend fuhr er fort:«Sehen Sie, Vasilij, es ist leider eine Tatsache, daß wir alle, jeder einzelne von uns, eine Kopie genau dieses Texts bekommen haben. Zwar steht Phils Name nicht drauf, aber wir mußten glauben, daß es sein Beitrag für die morgige Sitzung ist. Er hat keinen anderen Text von sich verteilt und auch sonst nichts getan, um die Sache richtigzustellen. Es kommt hinzu», mochte er hinzugefügt haben,«daß der Text zu einem Zeitpunkt verteilt wurde, als noch niemand etwas von Ihrer Ankunft wußte, auch er nicht. Das alles zwingt zu der Annahme, daß Perlmann uns betrügen wollte, indem er Ihren Text als den seinen ausgab. Plagiat also. Plagiarism. Unfaßbar; aber es gibt keine andere Erklärung. Und jetzt wundert einen auch nicht mehr, daß er nicht zum Essen erschienen ist.»
Perlmann brauchte eine Ewigkeit für den ersten Bissen des belegten Brots. Er kaute und kaute, jedes Bewegen des Kiefers war eine Leistung, der Lachs und das Ei schmeckten nach nichts, und die Sperre, die sich vor dem Schlucken aufgerichtet hatte, war schließlich nur durch ein gewaltsames Drücken mit geschlossenen Augen zu überwinden. Natürlich, es war Millar, der es ausgesprochen hatte. In Perlmann flammte der alte Haß auf, und die Verzweiflung färbte ihn noch dunkler als sonst. Er legte das Brot zurück auf den Tisch und fing an, den Whisky in kleinen Schlucken zu trinken.
Leskovs Gesicht nach der Eröffnung der Wahrheit wagte er sich nicht vorzustellen. Nach dem ersten Schock hatte es in ihm zu arbeiten begonnen. Die vielen auffälligen Dinge auf der Fahrt wurden mit einem Schlag wieder gegenwärtig und fügten sich zu einem Muster: Perlmanns Gereiztheit am Flughafen; seine Fahrigkeit am Steuer und die Wortkargheit; die sonderbare Route; die Übelkeit; das verrückte Fahren im Tunnel und die lahmen Begründungen danach. Beweisen konnte er nichts, selbst wenn er ihn ununterbrochen beobachtet hatte. Es hatte keine einzige falsche Bewegung gegeben, nichts, was eindeutig und unwiderlegbar eine Mordabsicht verraten hätte. Daß einer in einem Moment, wo es galt, einen breiten Wagen durch einen Engpaß zu lenken, die Hände vom Steuer nahm und dabei die Augen schloß, war unvorsichtig, fahrlässig und noch unverantwortlicher als die Raserei. Auch war es an der Oberfläche nicht verständlich und deutete auf einen dunklen Punkt in der Persönlichkeit des Fahrers hin. Aber es war nicht die Spur, nicht der Schatten eines Beweises für einen geplanten Mord. Das war auch Leskov klar, und deshalb würde er es niemandem erzählen; eine solche Beschuldigung war zu ungeheuerlich. Auch unter vier Augen konnte er ihn nicht anklagen. Er konnte nicht beweisen, daß die Geschichte mit der Übelkeit und die Erklärung mit der panischen Angst vor Bulldozern glatte Lügen waren. Und doch war Perlmann ganz sicher, daß Leskov heute abend, jetzt, in diesem Augenblick, alles wußte. Es war völlig ausgeschlossen, diesem Mann, der ihn als seinen Mörder anblicken würde, noch einmal zu begegnen.
Als Perlmanns Hand aus Versehen die Tischkante streifte, löste sich das Pflaster am Finger. Erst jetzt merkte er, daß der Finger stark geschwollen war. Um die blutunterlaufene Stelle herum war er gelb und grün, die Haut spannte und war heiß. Und jetzt juckte auch der Kopf wieder. Er holte die Schachtel mit den Schlaftabletten hervor, hielt sie unter die Jacke, sah sich verstohlen um und entnahm ihr eine. Nach einem Moment des Zögerns brach er sie in der Mitte durch und spülte die eine Hälfte mit Mineralwasser hinunter.
Sie würden alle schweigend auf ihn warten, wenn er morgen früh die Veranda Marconi betrat.
«Sie haben ja nun alle diesen Text bekommen», könnte er lächelnd sagen,«ich hoffe, Sie haben ihn nicht irrtümlich für
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