Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
meinen eigenen gehalten, obwohl ja mein Name gar nicht draufsteht. Inzwischen werden Sie sicher wissen, daß es ein Text unseres russischen Kollegen ist, den ich übersetzt habe. Ich habe ihn verteilen lassen, weil er mir als Ausgangspunkt für das dienen soll, was ich nun entwickeln möchte. Und es ist eine glückliche Fügung, daß Vasilij nun sogar selbst dabei sein kann. Ich verspreche mir viel davon. »
Es wäre ein tollkühner Poker. Perlmann wurde schwindlig bei der Vorstellung, und dieser Schwindel verschmolz mit der beginnenden Wirkung der Tablette. Sie würden ihm kein Wort glauben, kein einziges Wort. Sie wußten, daß er ein Betrüger war, ein Hochstapler, und jetzt lernten sie ihn auch noch als eiskalten Lügner kennen. Er würde niemals die Kraft aufbringen, jeden einzelnen ihrer verachtungsvollen Blicke mit herausfordernder Härte zurückzugeben, bis sie unsicher wurden. Unsicher würden sie höchstens dann, wenn er nun einen durch und durch originellen, brillanten Vortrag hielte. Aber er hatte ja nichts zu sagen, keinen einzigen Satz. Er stünde dort vorne als einer, der stumm nach Luft schnappte.
Oder sollte er sich vorn hinsetzen und in dürren Worten, mit versteinertem Gesicht, die Wahrheit aussprechen? Mit welchen Worten würde er das tun? Wie viele Sätze würde er benötigen? Wohin würde er blicken? Und wenn er es gesagt hatte: Was dann? Konnte man sich für etwas Derartiges überhaupt entschuldigen? War es nicht fast ein Hohn, einfach zu sagen:«I am terribly sorry?»Und dann: aufstehen und gehen? Wohin?
Konnte man mit einer solchen Ächtung weiterleben? Richtig leben und sich innerlich entwickeln, so daß es nicht nur ein geducktes Dahinschleichen war, ein Aushalten und Überstehen, ein Vegetieren? Man müßte eine Möglichkeit finden, sich vom Urteil der anderen und vom Bedürfnis nach Anerkennung vollständig unabhängig zu machen. Frei zu werden, richtig frei. Mit einemmal wurde es in Perlmann ruhiger. Die Wogen von Panik und Verzweiflung glätteten sich, und er hatte das Gefühl, ganz dicht vor einer entscheidenden, einer erlösenden Einsicht zu stehen, der wichtigsten seines gesamten Lebens. Warum sollte es denn nicht möglich sein, sich aus der beruflichen Rolle, der öffentlichen Identität, ganz zurückzuziehen in die private, die eigentliche Person, in diejenige Identität, die ganz allein zählte?
Im Grunde genommen war es doch einfach die Lust am Übersetzen gewesen, seine alte Liebe zum Hin- und Herspringen zwischen Sprachwelten, sein Dolmetschertraum also, der ihn immer wieder zu Leskovs Text hatte greifen lassen. So war er eben, das war doch nichts Schlimmes, dazu konnte er stehen. Nicht die Spur von betrügerischer Absicht war am Werk gewesen, weder bewußt noch als verborgene Unterströmung. Da war er sich vollkommen sicher, das war so, das brauchte er sich nicht einzureden. Und der Rest – der Rest war eben Notwehr gewesen. Er hatte Leskovs Text vor sich hingehalten als einen Schutzschild gegen die zudringlichen Blicke der anderen, gegen ihre ewig gleichen, monoton fortgeschriebenen Erwartungen, mit denen getan wurde, als entwickelten sich die Menschen linear und ohne Brüche – als bestünde das gelungene Leben darin, die früh, viel zu früh getroffenen Berufsentscheidungen, die zudem diesen Namen kaum je verdienten, in restloser Identifikation, also vollständiger Distanzlosigkeit, Jahrzehnt um Jahrzehnt zu exekutieren. Was willst du einmal werden, man muß etwas werden, was ist aus ihm geworden - das waren die Leitsätze der Eltern am Mittagstisch und beim Abendessen, er hatte sie unzählige Male gehört, und sie waren in seine tiefste Tiefe hineingesunken, und noch tiefer. Es waren Sätze, die nie zur Diskussion gestanden hatten, sie kamen mit hypnotischer Selbstverständlichkeit daher, und in ihrer monotonen, gedankenlosen Wiederholung wurden sie zu einer Fermate, zu einem ständigen Hintergrundton, der in seiner teuflischen Unauffälligkeit so ausgreifend und ausfüllend war, daß man auch später gar nicht wußte, wie ein Leben ohne ihn wäre.
Man muß etwas werden, sonst ist man nichts. So lautete das Axiom in seiner perfiden Einfachheit und Offensichtlichkeit. Er würde es nehmen, dieses eherne Axiom, dachte Perlmann, er würde alle seine Kräfte versammeln, auch noch diejenigen aus dem hintersten Winkel der Seele, und dann würde er es mit diesen gebündelten Kräften so lange biegen, bis es brach. Das, was er geworden war, ein angesehener Professor mit
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