Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Preisen und einer Einladung nach Princeton, das war er seit heute abend nicht mehr, das war vernichtet. Aber deshalb war er noch lange kein Nichts. Es blieb noch viel von ihm übrig, noch sehr viel, und davon hatten die anderen keine Ahnung. Darin würde er sich einnisten, und dann kam es darauf an, die Seele ganz rund zu machen und mit Wachs zu überziehen, damit alles an ihr abglitt und abtropfte, auch die feindseligen Blicke der anderen. Er würde ganz aufrecht, erhobenen Hauptes, durch die Straßen gehen.
Es war ein befreiender Gedankengang. Aber er war noch neu und drohte deshalb, kaum war er abgeschlossen, wieder zu entgleiten. Er würde ihn noch oft wiederholen und gleichsam innerlich aufführen müssen, bis er fest verankert war. Perlmann nahm die zweite Hälfte der Tablette aus der Schachtel und schluckte sie, zusammen mit dem restlichen Whisky. Der Finger spannte jetzt nicht mehr, und das Kopfjucken war abgeklungen. Er aβ das belegte Brot. Er hatte wieder eine Zukunft. In dem tiefen Sessel fühlte er sich wohl und freute sich, daß er die Melodie, die von der Bar herüberkam, sofort erkannte. Das Entscheidende war, den Sinn für die Proportionen nicht zu verlieren. Was spielte es denn, vom Standpunkt der Ewigkeit aus betrachtet, für eine Rolle, ob diese dreiundsiebzig Seiten, die letztlich ohnehin ganz unwichtig waren, aus seiner Feder stammten oder der Leskovs? Wen kümmerte denn das im Ernst? Da gab es Milchstraßen und dahinter nochmals Milchstraßen, ohne Ende, und hier, auf diesem winzigen Fleckchen Erde, eingekerkert in ihr bedeutungsloses kleines Leben, das nach wenigen Jahrzehnten völlig vergessen sein würde, machten sich Menschen wegen einer Handvoll Buchstaben das Leben zur Hölle. Es war zum Lachen, ganz einfach zum Lachen. Perlmann versuchte sich vorzustellen, wie das Zusammenleben der Menschen aussähe, wenn jeder sich selbst und die anderen stets vom Standpunkt der Ewigkeit aus betrachtete. Aber es wollte ihm nicht recht gelingen, die Frage war schwer anzupacken, und er glitt immer wieder ab. Doch das machte nichts. Die Hauptsache war, die richtigen Proportionen nicht aus den Augen zu verlieren. Die richtigen Proportionen. Die Proportionen.
Als er, vom Kellner angesprochen, aus dem Halbschlaf aufschreckte, war es fünf vor elf, und der Raum war leer. Er wolle bald Schluß machen, sagte der Kellner, ob Perlmann noch etwas wünsche. Er bestellte ein Mineralwasser. Er hatte einen trockenen Mund und eine dicke, pelzige Zunge. Von dem, was in der letzten Stunde gewesen war, hatte er keine Ahnung mehr. Er fror. Er wußte nicht mehr weiter. Keinen Schritt. Vier Tabletten waren es noch. Das reichte nicht. Er nahm den Text und ging hinaus, ohne auf den Kellner zu warten und ohne zu zahlen.
Die kühle Nachtluft machte ihn schwindlig, aber sie tat auch gut. Auf dem Weg nach unten zum großen Platz sah er in einer Nebenstraße eine Mülltonne. Sie schien zu einem Hotel oder Restaurant zu gehören, denn aus dem Ventilator über ihr kamen Küchengerüche, und er hörte Geschirrgeklapper. Bis auf eine Lage Kartoffelschalen war die Tonne leer. Das war heute bereits das dritte Mal, daß er einen Text beseitigte. Er war gut darin, und es kam ihm vor, als sei er seit Wochen mit nichts anderem beschäftigt gewesen. Dieses Mal aber war es etwas Besonderes. Denn dieses Mal war es vollkommen sinnlos. Es war, wie wenn einer sein Exemplar der Zeitung vernichtete, um eine Nachrichtensperre zu verhängen.
Perlmann legte beide Arme auf den Tonnenrand und begann leise zu lachen. In der Hoffnung auf Erleichterung versuchte er, dieses Lachen in Gang zu halten und von innen her anzutreiben, aber es war ein hysterisches Lachen, das bald in einem Würgen versiegte. Der Papierstoß plumpste auf den Abfall.
An der Piazza Vittorio Veneto erwischte er ein Taxi und ließ sich zum REGINA ELENA fahren. Den Fahrer hieß er, an einer dunklen Stelle nach dem Hotel zu halten. Er blätterte in seinen Geldscheinen und gab ihm dann den größten, eine Hunderttausend-Lire-Note.«Der Rest ist für Sie», sagte er.
«Ma no, Signore», stotterte der Fahrer,«das kann ich nicht annehmen. Sehen Sie denn nicht, was Sie mir da gegeben haben?»Er hielt den Schein direkt unter das Lämpchen an der Decke.
«Es ist gut so», sagte Perlmann gereizt und stieg aus.
Er setzte sich ganz vorn auf die kleine Strandmole für Hotelgäste und legte die Tabletten neben sich. In den Kleidern ins Wasser gehen und hinausschwimmen, immer weiter, bis
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