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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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ihn die Kräfte verließen. Seit jenem Tag im Hallenbad war es stets ein Drama gewesen, wenn ihm beim Schwimmen der Kopf unter Wasser geriet. Aber die Tabletten waren eine Hilfe. Er würde nur wenig spüren und bald das Bewußtsein verlieren.
    Eine Welle von Tablettenmüdigkeit überspülte ihn, und dann war Leere. Er war froh, daß es keine Strandbeleuchtung gab. Er vermochte nur noch langsam zu denken und verlor öfter den Faden.
    Es war eine untheatralische, lautlose Art, aus dem Leben zu scheiden. Keine Zuschauer, keine Aufregung nach einem Knalleffekt. Morgen würde ihn ein Polizeiboot aus dem Wasser ziehen. Das war alles. Es paßte zu seinem Wunsch, ohne jedes Aufsehen aus der Welt zu verschwinden. Er wünschte, er könnte darüber hinaus auf magische Weise erreichen, daß alle Spuren, die er in den Köpfen der anderen hinterlassen hatte, gelöscht würden. So, als habe es ihn nie gegeben.
    Ein Selbstmord wie aus dem Lehrbuch, dachte er, geradezu klassisch: ein Mann, der keinen anderen Ausweg mehr sieht, um der Schande zu entgehen. Vor achtundvierzig Stunden, nach dem Blick die Hotelfassade hinunter, hatte er diesen Weg verworfen. Es war der Gedanke an das Urteil der anderen gewesen, der ihn abgeschreckt hatte. Aber damals schien es noch einen Spielraum von anderen Möglichkeiten zu geben, da konnte er noch Dinge planen, die eine Entlarvung verhindert hätten. Und dieser vermeintliche Spielraum hatte einen Standpunkt geschaffen, von dem aus es etwas abzuwägen und zu verwerfen gab. Jetzt, wo als einzige Möglichkeit das schwarze Wasser dort draußen geblieben war, machte er, wenn er an die anderen dachte, eine neue, sonderbare Erfahrung. Sie war eigentlich zu kompliziert für seinen schweren Kopf, und zwischendurch setzte denn auch alles aus wie bei einem Filmriß. Dann schlotterte er in der dünnen Hose auf dem kalten Stein um so heftiger. Trotzdem kam er immer wieder auf diese Erfahrung zurück, er kreiste sie ein, und schließlich bekam er sie genauer und zuverlässiger zu fassen.
    Es war die Erfahrung einer unerwarteten inneren Loslösung. Er mußte sich auf eine der gefürchteten Personen konzentrieren, auf ihr Gesicht, aber mehr noch auf ihre atmosphärischen Umrisse, auf die Art von Situation, die sie durch ihre Gegenwart schuf. Worauf es dann ankam, war, den bedrohlichen und beinahe unerträglichen Empfindungen nicht auszuweichen, die aufstiegen, wenn er an das Urteil dachte, das sich diese Person dort oben in ihrem erleuchteten Hotelzimmer mittlerweile über ihn gebildet hatte und das sie morgen, wenn man ihn gefunden hatte, vielleicht noch durch den Gedanken der Feigheit ergänzen würde. Es galt, diese Empfindungen ganz ohne Abwehr an sich heranzulassen und ihnen mit disziplinierter Ruhe standzuhalten. Nach einer Weile dann verlor die betreffende Person ihre bedrohliche, erdrückende Nähe und fing an zurückzuweichen. Die eingedrückte Seele konnte sich nach außen wölben, die quälenden Empfindungen erloschen langsam, und er war frei. Es war eine ätherische und zerbrechliche Freiheit, die dabei entstand, und eine schwebende Gegenwart, in der man wie auf einer Nadelspitze balancierte. Er befand sich in einem schmalen Streifen Niemandsland zwischen dem Leben hinter sich, das mit den anderen verwoben gewesen war, und dem Dunkel vor sich, in dem kein Leben mehr sein würde. Auf diese Weise frei zu sein hätte eine Form des Glücks sein können, wäre da nicht das schwarze Wasser gewesen, das mit jedem seiner Schritte höher steigen würde. Und ohne das Wasser, das spürte er mit großer Klarheit, gäbe es diese Freiheit nicht. Drehte er um und ginge wieder richtig an Land, wäre sie augenblicklich verflogen, und die anderen würden ihn unter ihren Blicken begraben.
    Das eine Gesicht, das nicht zurückweichen wollte, war Kirstens Gesicht. Im Gegenteil, je länger er sie vor sich sah, desto schwerer wurde es, sie loszulassen. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, es ihr zu erklären. Die Nachricht vom Selbstmord und danach diejenige vom Betrug würden aus heiterem Himmel auf sie einstürzen. Sie stünden für sie dürr und stumm nebeneinander, diese beiden Nachrichten: Er hatte betrogen, und als die Sache aufflog, war er ins Wasser gegangen. Es würde klingen wie bei dem kleinen Angestellten, der Geld aus der Kasse genommen hatte.
    Sie war so schäbig, so entsetzlich schäbig, diese bekannte Geschichte, die in ihrer Kürze nie stimmte, auch beim kleinen Angestellten nicht. Irgendwie mochte Kirsten

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