Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
spüren, daß sie auch bei ihm nicht stimmte. Aber sie hatte keine Möglichkeit, von sich aus auf die wahre Geschichte zu kommen, oder auch nur in ihre Nähe. Er hatte zu ihr nie vom entgleitenden Beruf gesprochen. Oder von mißlungener Abgrenzung. Oder davon, daß die Beschäftigung mit den Sprachen sein Versuch war, hin und wieder einen kleinen Schatten der flüchtigen Gegenwart zu erhaschen. Das waren keine Dinge, die man einem Menschen in ihrem Alter erklären konnte. Jedenfalls hatte er das immer angenommen.
Aber vielleicht war es ja falsch, dachte Perlmann, und er begann, mit seiner Tochter halblaut zu sprechen. Am Anfang kamen die Worte nur stockend, er sprach sie in das stille, dunkle Wasser hinein und hob nur selten den Blick, um in Kirstens Gesicht nach Zeichen des Verständnisses zu suchen. Später kam, was er zu sagen hatte, flüssiger, es gewann auch für ihn selbst an Überzeugungskraft, und Kirsten begann zu nicken. Seine Zunge freilich blieb schwer, die Lippen gehorchten nicht immer, und manches Wort brachte er nur verwaschen heraus. Doch Kirsten nahm daran keinen Anstoß, sie verstand auch das, so daß er sich nicht zu genieren brauchte und weiterreden konnte, immer weiter, bis alles vollkommen klar war, lückenlos nachzuvollziehen und bis in jede Regung hinein verständlich. So daß ihm vergeben werden konnte.
Er steckte die Tabletten in die Tasche, erhob sich mit steifen, unsicheren Bewegungen und ging zurück zur Straße. Selbst fahren konnte er in seinem Zustand nicht. Aber er konnte einen Taxifahrer überreden, den Paß zu holen und ihn nach Konstanz zu fahren. Wenn er ihm eine fürstliche Bezahlung bot, würde sich schon einer finden. Er konnte auf dem Rücksitz schlafen, und wenn sie morgen vormittag ankamen, hatte er wieder einen klaren Kopf und eine klare Sprache. Dann konnte er Kirsten alles sagen, alles erklären, so, wie er es eben getan hatte, nur viel ausführlicher noch und viel besser.
40
In der Empfangshalle des REGINA ELENA lärmten angetrunkene Hochzeitsgäste und drängten dem Nachtportier, der seinen Ärger unter einem säuerlichen Lächeln zu verbergen suchte, ein Glas Champagner auf. Ihn konnte er unter diesen Umständen unmöglich bitten, nach einem Taxi zu telefonieren, er war ja nicht einmal Hotelgast. Gettoni hatte er keine, Telefonzellen nützten ihm also nichts. Er ging hinüber zum MIRAMARE und lehnte sich am Fuß der Freitreppe gegen die Wand. Rasch hineinhuschen, Giovanni die paar Worte sagen und dann sofort wieder hierher, um ungesehen auf das Taxi zu warten. Es würde drinnen keine zehn Sekunden dauern. Daß er just dann jemandem von den anderen begegnete, war unwahrscheinlich, es war bereits halb eins. Aber ausgeschlossen war es nicht. Laura Sand zum Beispiel machte um diese Zeit manchmal noch einen Spaziergang.
Perlmann ging die ersten Stufen hinauf, bis er über die Kante der Terrasse hinweg den Eingang sehen konnte. Er hatte Herzklopfen und atmete unwillkürlich ganz flach. Giovanni hielt einen Ellbogen auf die Theke gestützt und las Zeitung. Noch einmal überlegen. Erneut lehnte er sich gegen die Wand. Sonst mußte er in der Stadt nach einem Taxistand suchen. Er konnte sich hinauf bis zum Bahnhof schleppen. Aber hier hielt mitten in der Nacht kaum noch ein Zug, was sollten dort jetzt Taxis. Und an einen anderen Stand konnte er sich nicht erinnern. Er würde mit bleiernen Gliedern durch die stillen Gassen irren, jeder Schritt eine Tortur. Wieder warf er einen Blick hinüber zum Empfang. Giovanni lehnte jetzt mit gestreckten Armen gegen die Theke und las unten auf der Seite. In der Bar bewegten sich Schatten, und einen Moment später ging ein grauhaariger Mann durch die Halle zum Aufzug. Es war zu gefährlich. Er müßte noch ein, zwei Stunden warten. Er schloß die Augen. Eine lähmende Unentschlossenheit ergriff Besitz von ihm.
«Buona sera, Dottore», sagte Signora Morelli, die mit energischem Schritt und wehendem Mantel die Treppe herunterkam.«Ist... ist etwas nicht in Ordnung? Warten Sie auf jemanden?»
«Nein, nein... nichts», erwiderte Perlmann aufgeschreckt und gab sich Mühe mit der Aussprache. Und weil es unmöglich schien, sonst gar nichts zu sagen, fügte er hinzu:«Sie noch hier?»
«Ja, leider», sagte sie und schnitt eine Grimasse.«Die Steuer, man hat nichts als Ärger mit der Steuer. Es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Ich habe bis eben daran gesessen.»Sie lächelte.«Na ja, ist ja auch verrückt, ein solches Hotel ohne mehr
Weitere Kostenlose Bücher