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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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nach vorn lehnen, um die ersten Sätze zu lesen. Von wem ist dieser Text? wäre die aufgeregte Frage. Maria konnte abgelenkt sein, oder müde, oder schusselig, und schon war es passiert. Es gäbe Leskov gegenüber keine harmlose Erklärung mehr. Jetzt nicht mehr, volle drei Tage nach seiner Ankunft. Ganz zu schweigen von dem Gespräch über den vermißten Text. Es würde in ihm zu arbeiten beginnen.
    Fluch, dachte er. Leskovs Text lastete auf ihm wie ein Fluch, den er nie mehr loswurde, wohin er auch ging. Der Handkoffer, den er nicht losgeworden war. Und jetzt die Spuren im Computer, die alles verraten konnten, wenn Maria nur ein kleines, unschuldiges Versehen unterlief. Er stellte den Handkoffer in den Schrank, schloß den Schrank ab und legte den Schlüssel in die Nachttischschublade. Gerade hatte er die schweren Vorhänge zugezogen und sich hingelegt, da stand er wieder auf und holte den Handkoffer aus dem Schrank. Mit der Sorgfalt eines Restaurators ersetzte er die alten, fleckigen Löschblätter durch neue. Die Behandlung hatte geholfen. Die zerflossene Tinte war aufgesaugt worden, und die ursprünglichen Linien traten jetzt wieder deutlicher hervor. Der Dreck war angetrocknet und heller geworden. Perlmann tat den Koffer mit dem Text in den Schrank zurück und kroch unter die Decke. Wenn Maria jetzt mit Leskov arbeitete, hatte sie für ihn eine neue Datei angelegt. Es gab dann keinen Grund, eine andere aufzurufen. Es gab keine Gelegenheit für ein Versehen. Wenn sie um fünf oder sechs nach Hause ging, stellte sie den Rechner einfach ab.
    Später. Irgendwann später würde er sich Zugang zum Büro verschaffen und die gefährliche Datei eigenhändig löschen. Unmöglich war das nicht. Er entspannte sich.
     
    Das Mädchen in den Turnschuhen schwang den Handkoffer über dem Kopf, als sei er federleicht. Wenn dagegen er selbst ihn hochzuheben versuchte, war er wie ein Stück Blei, das von einem Magneten am Boden festgehalten wurde. Ein Meer aus Löschblättern um ihn herum färbte sich dunkel und war am Ende eine riesige Platte aus Rost. Ob er etwa glaube, dies hier sei eine Eisenwarenhandlung, fragte die weiße Lehrerin und zog den Hut der Heilsarmee ins Gesicht. Nein! schrie er mit versagender Stimme und zerrte an dem in der Wagentür eingeklemmten Handkoffer. Während er auf dem Bahnsteig mit dem beschleunigenden Zug Schritt zu halten versuchte, sah er den schwarzen Tunnel immer näher kommen.

45
     
    Es war stockdunkel, als Perlmann über dem hartnäckigen Surren des Telefons schließlich wach wurde. Er möchte sich dafür entschuldigen, daß er nicht zum Abendessen komme, sagte Leskov. Maria habe sich bereit erklärt, mit ihm noch eine Weile am Computer zu arbeiten, damit seine schriftliche Vorlage für die Sitzung von morgen fertig werde.
    «Ich weiß nicht, was ich sonst machen würde», sagte er.«Ich bin eben erst fertig geworden, obwohl ich fast die ganze Nacht gearbeitet habe. Und das alles nur, weil ich Idiot den verdammten Text vergessen habe!»
    Perlmann holte den Text aus dem Schrank. Die frischen Löschblätter hatten nur noch kleine Flecke. Der größte Teil der Blätter war inzwischen trocken. Das größte Problem machte das Blatt aus der Straßenmitte, dasjenige mit der vierten Zwischenüberschrift. Und schwierig war es auch mit einem Blatt aus dem Graben, das so naß gewesen war, daß es unter einem ständig tropfenden Baum gelegen haben mußte. Diese beiden packte er noch einmal zwischen frische Löschblätter. Den Handkoffer schloß er wieder in den Schrank und steckte den Schlüssel in die Tasche des Blazers, als er zum Essen ging. Seit Wochen war er das erste Mal pünktlich.
     
    Wie war die Freundlichkeit, sogar Wärme, zu verstehen, die sie ihm alle entgegenbrachten, als er an den Tisch trat? Es war nichts Falsches darin und auch nichts Aufdringliches, dachte er, während er die Suppe löffelte. Und doch war sie schwer zu ertragen. Denn sie hatte etwas von der Freundlichkeit und bemühten Menschlichkeit, die man einem Patienten entgegenbrachte – jemandem, dem man eine Atempause, eine Schonzeit einräumte. Für eine Weile klammerte man viele, sonst selbstverständliche Erwartungen und Anforderungen ein. Und das hieß: Man nahm ihn vorübergehend nicht ganz ernst. Perlmann war froh, als Silvestri ihn über den Tisch hinweg ganz geschäftsmäßig fragte, ob es ginge, daß er am Freitag nun doch noch eine Kleinigkeit vortrüge.
    Die Wahrnehmung, die ihn zu beschäftigen begann, als er dem

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