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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Tischgespräch zuhörte, brauchte Zeit, um einen klaren Gehalt zu bekommen. Während er in seinem Wahn und seiner Angst eingeschlossen gewesen war, hatten die anderen ihr Leben weitergelebt. Und das hatten sie auch zusammen getan, als eine Gruppe, in der sich vielfältige Beziehungen herausgebildet hatten. Da gab es laufend Andeutungen, Anspielungen und geteilte Erinnerungen. Es gab Ironie, ein Wissen um die verzeihlichen Schwächen der anderen, ein Spielen mit Kritik und Selbstbehauptung, eine Freude am intellektuellen und persönlichen Geplänkel. Und es gab gemeinsame Erfahrungen mit diesem Ort hier, mit Lokalen, Kirchen, der Post – Erfahrungen, welche die anderen gemacht hatten, während er mit der Chronik in einem Innenhof gesessen und versucht hatte, durch die Vergangenheit hindurch die Gegenwart zu finden. Er spürte einen Stich, und es kamen ihm Klassenfahrten in den Sinn, wo er oft das Schlußlicht gebildet hatte.
    Achim Ruge – auch das bemerkte Perlmann mit einem Staunen, als sei er erst heute hier eingetroffen – war in der Zwischenzeit offenbar so etwas wie der heimliche Star der Gruppe geworden. Sein glucksendes Lachen steckte die anderen regelmäßig an, und bei jedem neuen Thema schien es Perlmann, als warte die Runde auf eine seiner trockenen Bemerkungen. In der Diskussion über Laura Sands Film damals war von Ruge etwas Persönliches sichtbar geworden. Sonst wußte er über diesen Achim Ruge eigentlich nichts.
    Ich habe den anderen nie eine Chance gegeben, mich näher ken nenzulernen. Nie hatte er sich von einer anderen als der rein beruflichen Seite gezeigt. Seine Angst hatte die anderen von vornherein auf eindimensionale, schematische Figuren reduziert. Sie waren in erster Linie Gegner. Das galt letztlich auch für Evelyn Mistral. Ununterbrochen hatte er versucht, die anderen auszurechnen. Er hatte innerlich harsche Urteile über sie gefällt. Dabei wußte er, von Äußerlichkeiten abgesehen, so gut wie nichts über sie. Die panische Angst vor dem Entlarvtwerden hatte seine Wahrnehmung in einer erschreckenden Oberflächlichkeit erstarren lassen. Noch zwei Tage, dann reisten sie ab. Er hatte nichts über sie erfahren, nichts von ihnen gelernt, und die einzige Beziehung, die er zu ihnen entwickelt hatte, bestand darin, daß er sich gegen sie abzukapseln und zu schützen suchte.
    Leskov habe aber wirklich Pech mit seinem vergessenen Text, sagte von Levetzov. Da habe er diese lange Reise gemacht, sei das erste Mal im Westen, und nun sitze er seit gestern mittag pausenlos in seinem Zimmer und bereite sich vor. Dabei müsse er am Sonntag schon wiederzurück.
    «Manchmal», fügte er hinzu,«scheint er Angst zu haben, daß der Text unterwegs verlorengegangen ist. Das hat er mir heute mittag angedeutet. Er sah ganz verstört aus. Es scheint für ihn auch beruflich einiges davon abzuhängen. »
    Perlmann ließ den Nachtisch stehen und ging hinaus zu Marias Büro. Als Leskov ihn durch die Glastür sah, kam er mit übernächtigtem und vor Aufregung gerötetem Gesicht auf ihn zu.
    «Wir sind bald fertig. Unglaublich, was so ein Computer kann! Daß man einen Text einfach mit einem Tastendruck auf den Bildschirm holen kann! Mit einem einzigen Druck! Man muß nur die Markierung an die richtige Stelle schieben! »
    Perlmann ging auf die Terrasse und rauchte eine Zigarette. Er sah Marias Hände mit den roten Fingernägeln und den zwei silbernen Ringen vor sich. Sie würde mit der Markierung aufpassen. Sie war nicht schusselig. Sie würde aufpassen. Bevor er sich zur Tür wandte, sah er unwillkürlich zu seinem Zimmer hinauf. Die einzige Fensterreihe ohne Balkon.
    Ob sein Vater noch lebe, fragte ihn Laura Sand beim Kaffee.
    «Er irrte sich nämlich gewaltig: In Mestre gibt es wunderbare Ecken. Wenn man Augen hat. Ich empfinde diese bescheidene, hart arbeitende Stadt immer als eine Erholung nach dem spektakulären und irgendwie unwirklichen Venedig. Ins Hotel gehe ich immer in Mestre, nie in Venedig. David hält das für eine Marotte. Aber mir gefällt es so. Vom Preis ganz abgesehen. »
    «Ich dagegen finde Mestre das letzte», sagte Millar und sah Perlmann mit einem Grinsen an, in dem versöhnlicher Spott lag.«Ich mußte dort einmal übernachten, weil irgend etwas mit dem Damm nach Venedig nicht in Ordnung war. Der Abend schien sich endlos hinzuziehen. »
    Perlmann war ihm dankbar für die Bemerkung. Millar verachtete ihn wegen gestern nicht. Er hat mich hochgetragen. Ihre Blicke trafen sich. Auch er schien

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