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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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an den Moment im Rathaus zu denken.
    «Ich kannte mal ein Mädchen in Mestre», sagte Silvestri, ohne eine Miene zu verziehen.«Eine tolle Stadt. »
    «Well», sagte Millar und runzelte ironisch die Stirn.
    «Ecco!» sagte Silvestri und blies Rauch in seine Richtung.
    «Meinen nächsten Urlaub mache ich in Mestre», gluckste Ruge beim Aufbruch,«und fahre kein einziges Mal nach Venedig rüber! »
     
    Die beiden am meisten strapazierten Seiten hatten noch einmal Feuchtigkeit an die frischen Löschblätter abgegeben. Aber trocken waren sie noch lange nicht, und Perlmann legte sie zusammen mit einigen anderen auf die Heizung. Dann machte er den runden Tisch frei, holte die Zahnbürste und begann, den Dreck von den trockenen Blättern zu entfernen.
    Es blieben viele bräunliche, manchmal auch gesprenkelte Flecke, die nicht wegzukriegen waren, und dort, wo dicke Wassertropfen hingefallen waren, hatte sich das Papier durch das Trocknen verzogen. Aber der Text war, wenn auch verblaßt, wieder lesbar, und Leskov selbst würde auch bei den formlosen Tintenkleksen bald Bescheid wissen. Perlmann bekam Übung mit der Zahnbürste, er hatte jetzt den richtigen Winkel für die Borsten im Gefühl und wußte, wie man feuchte Reste von Erde entfernte, ohne zu schmieren. Den Staub blies er laufend weg, und zwischendurch holte er aus dem Bad ein Handtuch, um die Zahnbürste zu säubern. Er schaukelte bei der Arbeit leicht mit dem Oberkörper und machte mit dem Fuß eine rhythmische Gymnastik.
    Gerade hatte er mit Seite 49 begonnen, und es war halb zwölf, als es klopfte.
    «Ich bin’s», sagte Leskov.«Kann ich einen Moment reinkommen? Ich muß mit dir reden. »
    Ich muß mit dir reden. Perlmann erstarrte und hatte auf einmal das Gefühl, seit Stunden in eisiger Kälte zu sitzen. Sie hat sich mit der Markierung vertan. Er hat den Text gesehen. Er weiß alles.
    «Philipp?»Leskov klopfte von neuem.
    «Einen Moment, bitte», rief Perlmann und konnte ein hysterisches Quietschen in der Stimme nicht verhindern,«ich muß mich erst anziehen! »
    In fiebriger Hast packte er den fertigen Stapel auf den anderen und sammelte die Blätter auf der Heizung ein. Dabei rutschte die Problemseite mit dem Zwischentitel aus den Löschblättern, fiel zu Boden und bekam beim Aufheben einen Riß. Wertvolle Sekunden verstrichen. Perlmann sah sich mit gehetzten Augen um und schob dann den ganzen Stoß unters Bett. Auf dem Weg zur Tür warf er Handtuch und Zahnbürste im Bad auf den Boden. Bevor er öffnete, blickte er zurück. Der Papierkorb aus Draht voller fleckiger Löschblätter. Der taubenblaue Teppich voll von hellem Staub. Der Tisch unnatürlich leer. Zu spät. Jetzt ist es soweit. Es hat mich also doch noch eingeholt.
    «Entschuldige, daß ich dich so spät noch störe», sagte Leskov und blies hastig große Rauchwolken in den Raum. Er legte einen Computerausdruck auf den Tisch. Das sei die Vorlage für morgen. Er sei beim Durchlesen auf einmal unsicher geworden, ob das so gehe – ob man so etwas überhaupt präsentieren könne. Er habe den Eindruck, daß einige Widersprüche drin seien, einige Ungereimtheiten.«Aber ich traue meinem müden Kopf nicht mehr. Das Ganze in so kurzer Zeit und ohne meinen Text machen zu müssen: Es war einfach zuviel. Würdest du es mal durchlesen?»
    Perlmann nahm die sechs Seiten und hielt sie vor die Nase. Er war nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort mit Verstand zu lesen. Das Blut pochte bis in die kalten Fingerspitzen. Die einzigen Geräusche im Zimmer waren Leskovs Paffen und das Rauschen der Heizung. Er schätzte die Zeit für eine Seite ab und blätterte um. Als es Zeit für die dritte Seite wurde, hatte er das Gefühl, dringend auf die Toilette zu müssen. Er hob einen Moment den Blick über den Blattrand hinweg. Leskov sah ihn unsicher an. Ob er rasch mal sein Bad benützen dürfe?
    Perlmann warf die Tagesdecke übers Bett und zog an ihr, bis sie auf der Seite des Fensters den Teppich berührte. Dann lehnte er sich mit geschlossenen Augen zurück, Leskovs Blätter griffbereit im Schoß. Maria hatte mit der Markierung aufgepaßt. Maria war nicht schusselig. Und Leskovs Text, dessen Zusammenfassung in seinem Schoß lag, war unter dem Bett. Er bliebe verborgen, selbst wenn Leskov sich bücken sollte. Dennoch ging die Angst nicht weg. Perlmann spürte Stiche in der Herzgegend. Aus Leskovs Pfeife im Aschenbecher stieg feiner Rauch auf. Es würde wieder die ganze Nacht süßlich riechen. Er haßte Leskov.

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