Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Nein, das stimmte nicht. Er wollte einfach nur, daß er verschwand. Daß alles verschwand: sein Geruch, sein Text, er selbst. Daß all dies spurlos verschwand. Für immer.
«Du meinst also wirklich, das geht so?»In Leskovs erleichtertem Gesicht waren Reste von Ängstlichkeit und Zweifel.
Perlmann nickte.
«Und die Widersprüche? Am meisten, weißt du, ärgert mich, daß ich die komplizierte Geschichte über die Vereinbarkeit von Erfindung und Aneignung nicht mehr zusammenkriege. Dabei steht es alles da, schwarz auf weiß. In Petersburg. Hoffentlich. »
«Diese Thesen hier lassen sich verteidigen, da bin ich sicher», sagte Perlmann und reichte ihm die Blätter mit einer Bewegung, die so viel Bestimmtheit hatte, daß sie beinahe heftig wirkte. Er sah diese Bewegung mit Erstaunen und war verwundert, wie laut und fest seine Stimme klang. Es war die Stimme, dachte er einen Moment später, mit der man ein Versprechen gibt.
Die Zweifel verschwanden aus Leskovs Gesicht, und er hielt aufgeregt das Streichholz an die Pfeife. Ob Perlmann jetzt die Nähe zwischen ihren beiden Texten sehe?
Perlmann nickte stumm.
Leskov wollte gerade anfangen, über diese Nähe zu sprechen, da unterbrach er sich.«Ich lasse dich jetzt besser schlafen. Du siehst immer noch erschöpft aus. An der Tür gab er Perlmann überraschend die Hand.«Das war jetzt sehr wichtig für mich», sagte er mit einem dankbaren Lächeln. Langsam streckte er die Hand nach dem Türgriff hinter sich aus.«Weißt du, drüben in meinem Zimmer, am Schreibtisch, hat mich zwischendurch immer wieder der Gedanke überfallen: Der Text ist verloren. Alles, was ich in der Hand habe, sind diese paar Zeilen hier. Je müder ich geworden bin, desto öfter hat sich dieser Gedanke dazwischengeschoben. »Er lächelte.«Höchste Zeit, daß ich wieder einmal eine Nacht schlafe. »
Perlmann sah auf die grobe Hand, die den rauchenden Pfeifenkopf umschlossen hielt, und nickte. Der Moment, in dem die Tür ins Schloß fiel, wollte und wollte nicht kommen.
Bei weit aufgerissenem Fenster machte sich Perlmann daran, auch den Rest des Texts zu säubern. Morgen früh, wenn er Leskov die Veranda betreten und an der Stirnseite Platz nehmen sah, wollte er denken können, daß das Manuskript oben im Zimmer bereit lag – bereit, jederzeit zurückgegeben zu werden. Aber auf einmal war die ganze Fertigkeit, die er sich in den letzten Stunden angeeignet hatte, wie ausgelöscht. Er rieb entweder zu sanft oder zu kräftig und vergaß in der Ungeduld, daß trocken aussehende Erdkrümel innen noch feucht sein konnten. Immer öfter wurde aus dem Säubern ein Schmieren, und jetzt entdeckte er auch noch, daß sich oben an den Borsten der Zahnbürste Feuchtigkeit festgesetzt hatte, die vom Boden des Badezimmers stammen mußte und nun immer weiter zu den Borstenspitzen und in die Nähe des Papiers drang. Unten auf Seite 57 gab er auf, und als er das Blatt beiseite legte, sah er, daß seine Hand zitterte.
Jetzt war die problematische Seite 58 dran, die er vorhin erneut zwischen frische Löschblätter geschoben und noch einmal auf die Heizung gelegt hatte. Perlmann holte sie und betrachtete die Spuren, die vom Zwischentitel übrig waren. Das Gemisch aus Tinte und Dreck war mittlerweile ganz getrocknet und ließ sich mit dem Taschentuch wegwischen. Pridumannoe prošloe, die erfundene Vergangenheit, dachte er, war noch die wahrscheinlichste Lesart des blassen Linienfragments. Er nahm die Brille ab und hielt die Gläser als Lupe über das Papier. Jetzt entdeckte er, daß es vor dem ersten Wort eine Bleistiftmarkierung für eine Einfügung gab. Von der ebenfalls mit Bleistift geschriebenen Einfügung selbst waren nur die Buchstaben n und o zu erraten, die zum Anfang und Ende eines einzigen Worts zu gehören schienen. Nevol’no pridumannoe prošloe, die unfreiwillig erfundene Vergangenheit, dachte er. Dann hatte Leskov sein Thema in der zweiten Fassung also erweitert: Außer um die sprachliche Prägung von Erinnerungen ging es jetzt auch um Wahrheit und willentliche Kontrolle.
Perlmann warf noch einmal einen nüchternen Blick auf die wenigen Spuren: Nichts, was da auszumachen war, stützte diese übereilte Vermutung wirklich. Verärgert deckte er die Seite mit dem Löschblatt zu. Als er es wieder wegzog und zu lesen begann, spürte er die Beklemmung eines Süchtigen.
Es ging nur langsam mit dem Lesen, da er keine Erfahrung mit russischer Handschrift hatte. Aber er machte mit brennenden Augen weiter, bis
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