Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Kohl fiel. Die Wunde am Finger war nicht mehr feucht, der Bluterguß und die Schwellung waren zurückgegangen. Beim geringsten Druck freilich tat die Fingerkuppe immer noch so weh, daß es ihm die Tränen in die Augen trieb. Er tat das letzte Pflaster drauf.
Um Punkt acht ging er zum Frühstück. Wenn sie es so auffaßten, daß er jetzt, nach seiner Blamage, endlich zu Kreuze kroch, so war das ihre Sache. Signora Morelli war gerade unter den Säulenvorbau hinausgetreten und rückte einen der runden Tische zurecht. Unbemerkt beugte er sich über die Empfangstheke und schob die fleckige Landkarte, die über Nacht auf der Heizung gelegen hatte, zwischen andere Papiere auf der Ablage.
Der Speisesaal war vollständig leer. Am Tisch der Gruppe war kein einziger Teller benutzt. Der Kellner, der ihm den Kaffee und das Ei brachte, war sichtlich verlegen. Mit jeder Minute, die verstrich, ohne daß jemand erschien, fühlte sich Perlmann mehr verhöhnt. Den Kellner zu fragen, ob sich die Frühstücksgewohnheiten seiner – ja, seiner-Gruppe geändert hatten, war unmöglich.
Um Viertel nach acht kam Adrian von Levetzov. Zum erstenmal sah Perlmann ihn ohne Weste und sogar ohne Krawatte. Sein bleicher, faltiger Hals ließ ihn alt aussehen.
«Ach, Perlmann, guten Morgen», sagte er matter als sonst und rieb sich die Augen.«Wir sind alle gestern sehr spät noch ausgegangen. Es herrscht bereits Aufbruchsstimmung. »
Perlmann nickte und nahm noch ein Brötchen. Und danach noch eins. Das Schweigen war unerträglich. Das Tischtuch hatte Flecke. Die Bewegungen des Kellners waren geziert.
«Ich wußte nichts von dem Unglück mit Ihrer Frau», sagte von Levetzov mit der Kaffeetasse in der Hand,«bis Leskov uns am Dienstag davon erzählte. Entsetzlich. Es muß Sie sehr mitgenommen haben.»
Leskov: der Mann, der den anderen meinen Zusammenbruch erklärt. «Ja», sagte Perlmann und schenkte sich Kaffee nach.
Jemand war mit dem feuchten Löffel im Zucker gewesen, in der Dose gab es braune Klümpchen. Im frischen Aschenbecher klebte ein winziger Rest Kaugummi, an dem ein Wassertröpfchen hing.
Er wollte sich Mühe geben mit Adrian von Levetzov. Aber er hatte keine Ahnung, wie er es anstellen sollte.
«Tja, nun müssen wir wieder in die Tretmühle zurück», lächelte von Levetzov.«Was werden Sie unterrichten?»
Während er eine vage Beschreibung seiner Lehrveranstaltungen gab, geschah in Perlmann etwas Leises und Dramatisches: Er faßte den Entschluß, seine Professur aufzugeben.
Was da in ihm vorging, war keine innere Handlung. Überhaupt war es nichts Aktives. Eher glich es dem Vorgang, daß ein Rädchen, das sich mit seinem Stift seit langem leise und unaufhaltsam auf ein Schloß zubewegt hatte, endlich einrastete und damit etwas Größeres, Umwälzendes in Gang setzte. Er hatte nicht gewußt, daß es bereits soweit war. Und doch schien es ganz natürlich, daß es gerade jetzt geschah – in einem Moment, wo der leere Speisesaal seine Entfremdung von den Kollegen und ihrer Welt so sinnfällig unterstrich, als habe ein Regisseur ein Filmbild zum Thema geschaffen.
Von Levetzov erhob sich mit einem Blick auf die Uhr.«Ich muß noch einen Anruf erledigen», sagte er entschuldigend.«Bis gleich. »
Perlmann nahm den leeren Raum in sich auf. An diesen Saal und diesen Moment würde er immer wieder zurückdenken. Es war diesig über der Bucht, man wußte nicht, ob sich die Sonne durchsetzen würde. Er rauchte langsam zu Ende und fuhr auf dem Weg zur Tür mit der Hand den Tischkanten entlang.
Da stieß jemand mit der Schulter die Tür auf. Es war Millar, er hatte die Brille abgenommen und fuhr sich gerade mit der Hand übers Gesicht. Danach kam Rüge herein.«Einen Eimer Kaffee! »rief er dem Kellner zu. Evelyn Mistral, die hinter ihm ging, lachte ihr perlendes Lachen. Sie hatte das Haar hochgesteckt und trug den Schreibblock mit dem Wappen von Salamanca unter dem Arm.
«Bis gleich», sagte Perlmann und entzog sich den erstaunten Blicken.
«Signor Perlmann!»Maria hatte die Bürotür offenstehen und kam jetzt hinter dem Schreibtisch hervor.«Ich habe von Giovanni gehört, daß Sie gestern nacht an den Computer wollten. Ist irgend etwas nicht in Ordnung? Ich schließe ihn abends immer ab. Eine Vorsichtsmaßnahme. Wenn ich gewußt hätte... »
Perlmann sah auf ihre Hände – die Hände, die sich nicht irren, die auf gar keinen Fall danebengreifen durften.
«Es war nicht so wichtig», sagte er mit angestrengtem Gleichmut,«ich
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