Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
sagte Perlmann, und eine Rührung, die nur schwer von purer Müdigkeit zu unterscheiden war, trieb ihm die Tränen in die Augen.
«E come!» meinte Giovanni.
«Ciao», sagte Perlmann und berührte ihn flüchtig an der Schulter.
«Ciao», sagte auch Giovanni. Er sagte es zögernd und leise, und es klang wie ein ungläubiges Echo.
Als Perlmann auf die Strandmole beim REGINA ELENA hinuntersah, stand dort eine Gruppe Jugendlicher, die gerade klatschte, weil ein hochgeschossener Junge ein Mädchen küßte, das ihm trotz der hochgesteckten Haare kaum bis an die Brust reichte. Das war nicht seine Mole, nicht der Steg, der ins schwarze Wasser hinausführte. Es war, als sei die Mole von vorgestern nacht durch die Jugendlichen ausgelöscht oder, besser: aus der Welt hinausgedrückt worden.
Er ging hinter dem Felsvorsprung weiter, bis es ganz dunkel wurde. Dann schleuderte er die Diskette weit hinaus ins Meer. Die Bewegung kam aus dem Hand- und dem Schultergelenk zugleich, die kleine Scheibe drehte sich schnell um die eigene Achse, stieg eine Weile in einer flachen Kurve hoch, stürzte dann trudelnd ab und schnitt fast senkrecht ins Wasser. Perlmann hörte ein leises Klatschen, aber er wußte nicht, ob es vielleicht nur Einbildung war.
Vom Felsvorsprung aus blickte er hinüber zum MIRAMARE. In der Mitte der Leuchtschrift schien ein Buchstabe zu flackern. Irgendwo dort drüben in den dunklen Hügeln standen die Mülltonnen, in die er die erste Fassung von Leskovs Text geworfen hatte. Morgen, gleich nach der Sitzung, würde er die zweite Fassung fertig säubern. Von Italien aus konnte er sie auf keinen Fall schicken. Allenfalls von Frankfurt aus. Aber die Überlegung war müßig. Er konnte Leskov den Text unmöglich zuschicken.
Die Jugendlichen waren weitergezogen. Die Strandmole war leer. Sein Steg war wieder in der Welt, umspült von schwarzem Wasser. Perlmann spürte, wie es in ihm zu bröckeln begann. Das innere Gewölbe hatte feine, tückische Risse. Schnell ging er zurück ins Hotel.
Die Luft im Zimmer war kalt, und es roch immer noch süßlich, obwohl Leskov den Aschenbecher dieses Mal nur für ein Streichholz benutzt hatte. Perlmann wusch die Zahnbürste mehrmals aus. Doch es war, als habe sich der Dreck in die Borsten geradezu hineingefressen. Der Schaum beim Zähneputzen hatte einen bräunlichen Schimmer.
Morgen früh, dachte er im Dunkeln, würde Leskov in der Veranda an der Stirnseite sitzen, ängstlich und mit beinahe leeren Händen. Er wußte es nicht, aber Perlmann hatte ihm versprochen, seine Sache, die er in der neuen Fassung gar nicht kannte, zu verteidigen.
Es war ein vorsintflutlicher Bildschirm, giftiges Hellgrün auf dumpfem Dunkelgrün, und er flimmerte so wild, daß einem sofort die Augen tränten. Es entströmte ihm ein ekelhafter, süßlicher Geruch. Das konnte nicht sein, aber es war so, und als er an den Lüftungsritzen schnüffelte, kam nun auch noch Rauch heraus, ein tückischer Rauch, der erst gar nicht sichtbar war, dann aber plötzlich eine dichte, erstickende Wolke bildete. Eine Flut von unverständlichen italienischen Befehlen und Dateinamen überschwemmte den Schirm. Schließlich bekam er irgendwie das Richtige zu fassen, aber Leskovs Text ließ sich einfach nicht löschen, er drückte die Taste immer wieder, Hunderte von Malen, bis von der Taste gar nichts mehr übrig war, doch Leskovs Text mit Perlmanns Namen unter der Überschrift flimmerte immer weiter. Schließlich kippte er den Netzschalter, aber es tat sich nichts, auch das Herausziehen des Steckers blieb ohne Wirkung, Leskovs Text flimmerte und flimmerte, und jetzt stand Perlmanns Name plötzlich auch noch in Großbuchstaben da. Da nahm er den riesigen Vorschlaghammer in beide Hände. Aber so leicht war das gar nicht. Man mußte mit seitlichen, rhythmisch schwingenden Bewegungen Anlauf nehmen, um den Hammer dann zum entscheidenden Schlag hoch über den Kopf zu ziehen. Endlich war es soweit, der Hammer stieg hoch, er überschritt den Scheitelpunkt, aber dann hatte er mit einemmal überhaupt keine Substanz und kein Gewicht mehr, und statt daß er krachend auf den Rechner prallte, fand sich Perlmann beim Aufwachen mit einer krampfhaft geballten Faust auf der Bettdecke.
46
Trotzdem hatte er das Gefühl, seit einer Ewigkeit wieder einmal eine Nacht richtig geschlafen zu haben. Beim Anziehen stellte er fest, daß er keine frische Wäsche mehr hatte, und sah die prallvolle Plastiktüte vor sich, die auf den stinkenden
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