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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Reise mitzunehmen, ohne vorher eine Kopie zu machen! Wie konnte er nur!
    Als Leskov schon längst mit dem Vortrag begonnen hatte, haderte Perlmann immer noch mit ihm. Bis er plötzlich abrupt abbrach: Was wäre gewesen, wenn er mir vor dem Tunnel von einer solchen Kopie erzählt hätte? Er nahm die Hände vom Gesicht und versuchte zuzuhören.
    Die anderen mit ihren verschlafenen Gesichtern nahmen den Russen nicht ernst. Der Kontrast zwischen der Krawatte, die Leskov in den Hals schnitt, und Adrian von Levetzovs ungewohnt offenem Kragen war so vielsagend, daß Perlmann erneut in Wut geriet. Doch dieses Mal war es eine Wut, die sich auf Leskovs Seite schlug und so weit ging, dessen scheußlich grünes Hemd zu verteidigen. Millar, der in der Veranda nie ohne den Blazer erschienen war, trug eine Windjacke und hatte einen Fotoapparat vor sich auf dem Tisch liegen. Und Evelyn Mistral, die den anderen stets mit gezücktem Stift zugehört hatte, beschrieb mit der zusammengeklappten Brille Kreise auf dem ungeöffneten Schreibblock. Das einzig neugierige Gesicht war dasjenige von Giorgio Silvestri.
    In der Diskussion wurde Leskov zunächst geschont, und es war ein herablassendes Wohlwollen spürbar. Aber Leskov hatte inzwischen die Befangenheit abgestreift und überraschte alle durch seine Hartnäckigkeit. Er stand zu dem, was er vortrug, und zu Perlmanns Verblüffung ging er bald auch zum Angriff über. Da war nichts mehr von der Ängstlichkeit, mit der er ihm gestern abend im Zimmer gegenübergesessen hatte wie ein Student vor dem ersten Referat. Daß seine Angriffe trotz ihrer sachlichen Härte nie beleidigend oder verletzend waren, hatte viel damit zu tun, daß sein fehlerhaftes Englisch einen eigenen Charme besaß. Viele seiner Wendungen, die nicht genau saßen, hatten eine unfreiwillige Komik, die er selbst erst bemerkte, wenn sie sich in den Gesichtern der anderen spiegelte. Dann lachte er selbst am meisten darüber. Die Angegriffenen waren oft unsicher: War das nun ernst gemeint? Oder wußte er vielleicht nicht genau, was er da eben gesagt hatte? Vor allem Achim Ruge, der heute überhaupt keinen Humor zu haben schien, machte diese Unsicherheit zu schaffen, und als er eine Packung Aspirin hervorholte, mußte Laura Sand laut lachen.
    Leskov bemerkte das Zögern der anderen immer öfter und schneller. Dann wiederholte er den Einwand mit anderen Worten, und meistens zeigte die Variation im Ausdruck, daß er tatsächlich genau das gemeint hatte, was er sagte. Nach einiger Zeit verloren sich die Zweifel der anderen, er wurde schon bei der ersten Formulierung ernst genommen, und dadurch, daß der sprachliche Ausdruck als ein eigenes Thema verschwand, wurde die Diskussion direkter und herber. Evelyn Mistral schrieb jetzt, und Millar hängte den Fotoapparat über die Stuhllehne. Der süßliche Tabakgeruch erfüllte die ganze Veranda. Von Levetzov öffnete ein Fenster.
    Er, Philipp Perlmann, war bereit gewesen, den Menschen dort vorn, der jetzt unverstellt und ohne jede Eitelkeit bei seiner Sache war, kaltblütig zu ermorden. Während er zur Tarnung auf die Rückseite von Leskovs Vorlage kritzelte, suchte Perlmann verzweifelt nach einer Einstellung, einem inneren Manöver, das ihm helfen konnte, von den Empfindungen der Scham und Schuld, die alles andere verschluckten, nicht vollständig erstickt zu werden. Er versuchte, Leskov ganz äußerlich, sozusagen nur als Körper zu sehen und sich auf das zu konzentrieren, was ihn abstieß: den Schweiß auf der Glatze, die Wülste des Stiernackens, den Bauch, die Wurstfinger. Es war ein billiger, gemeiner Trick, und hinterher war die Scham nur um so größer.
    Auch er mußte etwas sagen. Und viel länger konnte er damit nicht mehr warten. Er fröstelte, der Luftzug vom offenen Fenster her war plötzlich eisig. So ähnlich, dachte er, mußte sich ein Sportler beim ersten Wettkampf nach der Verletzung fühlen. Über der Bucht schien die Sonne gegen den milchigen Hochnebel zu unterliegen; das Morgenlicht wurde matter. John Smith stand unschlüssig am Rande des Schwimmbeckens. Millar verzog spöttisch das Gesicht, als er ihn sah.
    Was drüben im leeren Speisesaal geschehen war, hatte die Empfindung von etwas Entscheidendem, Endgültigem hinterlassen; den Eindruck einer gelösten Spannung. Das ersehnte Gefühl der Befreiung indessen hatte sich nicht eingestellt. Vielleicht war das nur eine Frage der Zeit. Der Entschluß war ja erst eine gute Stunde alt. Aber im Grunde wußte Perlmann es

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