Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
beugte und die Ellbogen auf den Tisch stützte, hatte sein Gesicht einen Ausdruck, der zwischen Freude und Ungläubigkeit schwankte. Überschwenglich bedankte er sich für Perlmanns Zusammenfassung. Das sei wirklich ziemlich genau, nein, ganz genau die Art und Weise, wie sich seine Ideen ursprünglich entwickelt hätten. Er machte eine Pause, sah Perlmann nachdenklich an und ließ den Blick dann noch einen Moment auf dem Tisch verweilen, während er mit dem Daumen auf den Tabak drückte. Er ist sicher, daß ich den Text gelesen habe. Vollkommen sicher. Aber er wird es nie beweisen können. Inzwischen freilich hätten sich seine Überlegungen eben weiterentwickelt, sagte er und deutete auf die Vorlage. Und er ging die neuen Punkte noch einmal durch, sich vergewissernd, daß Perlmann beim Schreiben mitkam.
Damit, daß Perlmann einen dicken Strich unter das bisherige Gekritzel zog und in seiner gestochenen Schrift richtige Notizen machte, fing er an nachzudenken. Er arbeitete. Es war, als raste etwas ein, was lange Zeit unbenutzt geblieben war und in seiner Funktionslosigkeit nichts als Reibung erzeugt hatte. Schon lange war er nicht mehr so wach gewesen. Es gab nur noch Leskov und ihn im Raum. Er fragte nach, rekapitulierte, schlug Ergänzungen vor, um sein Verständnis zu prüfen. Aus den Augenwinkeln sah er schreibende Hände und überraschte, neugierige Gesichter. So hatten sie ihn hier noch nie erlebt. Er genoß seine Konzentration, seine Übersicht und Geistesgegenwart, und ab und zu, wenn er auf sich selbst achten konnte, weil Leskov am Wort war, meinte er zu spüren, daß nun doch, langsam und unauffällig, eine innere Befreiung durchzuschimmern begann und daß seine neue Wachheit, die, ganz anders als Montag nacht, jetzt nichts Überdrehtes an sich hatte, in einem Zusammenhang mit dem Entschluß von heute morgen stand.
Und dann, als ihm Leskovs neuer Gedankengang ganz klar vor Augen stand, begann er, den früheren Leskov gegen den späteren zu verteidigen. Es hätte ein Spiel sein können, und zuerst verdächtigte er sich denn auch einer Spielerei, bei der ihn der Teufel ritt. Doch bald stellte er fest, daß er das, was er verteidigte, tatsächlich glaubte. Dann wäre es ja eigentlich gar kein Plagiat gewesen. Er steigerte sich in einen wahren Rederausch hinein. Leskov lächelte vor sich hin wie einer, dem diese Überlegungen nur zu vertraut sind. Von Zeit zu Zeit stutzte er, runzelte die Stirn, nahm die Pfeife aus dem Mund und schrieb etwas auf. Evelyn Mistrals Gesicht verriet, wie froh sie war, daß Perlmann sich offenbar gefangen hatte. Sie nickte häufig, und zum erstenmal hatte Perlmann keine Angst mehr vor ihrer Brille.
Einmal, als Leskov etwas einwarf, um seinen neuen Gedanken zu verteidigen, vergaß sich Perlmann.«Aber da ist doch das frühere Argument viel überzeugender! »rief er aus.
Adrian von Levetzov drückte die Brille mit dem Zeigefinger auf die Nasenwurzel und sah fragend zu ihm hinüber. Leskov lächelte zunächst verständnisvoll, um dann plötzlich ruckartig den Kopf zu heben und ihn mit verengten Augen anzusehen. Er meine das Argument, über das sie damals in St. Petersburg gesprochen hätten, sagte Perlmann nach einer Schrecksekunde und machte ein Gesicht, das sich von innen her undurchsichtig und unangreifbar anfühlte. Eine Weile sah Leskov blinzelnd ins Leere. Dann begann er zu nicken. Sein Blick war voller Staunen. Das war ihm noch nie passiert, daß jemand sich nach so langer Zeit so genau an etwas erinnerte, was er gesagt hatte. So wichtig waren seine Gedanken noch nie für jemanden gewesen. Fast schien er sich vor den anderen zu genieren. Perlmann suchte nach Anzeichen des Argwohns. Es war nicht zu entscheiden, ob da etwas schimmerte oder ob es nur das ungläubige Staunen war, was Leskovs Gesicht diesen Ausdruck verlieh.
Ungeduldig geworden, fingen die anderen an, ihre Zweifel an Leskovs Methode vorzutragen. Perlmann fand, daß Leskov sich in diesem Punkt nicht gut verteidigte. Zum erstenmal wurde ihm bewußt, daß er in den Wochen des Übersetzens all diese Einwände und sogar noch eine Reihe weiterer in Gedanken vorweggenommen und sich mögliche Verteidigungen zurechtgelegt hatte. Dann habe ich ja doch die ganze Zeit über gearbeitet. Dann bin ich ja doch noch dabei. Er griff in die Diskussion ein. Dabei argumentierte er unaufgeregt, gelassen, und einmal glückte ihm sogar eine ironische Bemerkung. Und dann, während er betont ruhig, geradezu unterkühlt, eine Reihe von
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