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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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manchmal auch, daß die dienstliche Adresse die politisch sicherere sei? Hatte Leskov aber die dienstliche Adresse auf die letzte Seite geschrieben, dann mußte es ihm ein vollständiges Rätsel sein, warum der Unbekannte nicht diese Adresse benutzt hatte, sondern die private, die er unmöglich kennen konnte. Jetzt wäre der Verdacht wirklich nicht mehr abzuwenden: Perlmann hatte die letzte Seite verloren und zu der einzigen Adresse gegriffen, die ihm zur Verfügung stand. Auch Leskov würde sich zurückerinnern, wie sie an der Straßenecke gestanden hatten.
    Aber was sollte er machen? Er wußte ja nicht einmal den Namen der Universität in St. Petersburg, geschweige denn die Bezeichnung des Instituts und die Straße. Und etwas Vages draufzuschreiben, das war zu unsicher, wer weiß, wo der Text dann hingelangte und hängenblieb. Ganz zu schweigen davon, daß sich das mit der harmlosen Erklärung nicht vertrüge: Entweder hatte der Unbekannte die Adresse, dann hatte er sie genau. Oder er hatte sie nicht, dann konnte er nicht einmal wissen, daß es St. Petersburg war.
    Und Leskov einfach nach der dienstlichen Adresse fragen? Aber warum diese Frage, wo ihre Korrespondenz auf Leskovs ausdrücklichen Wunsch hin bisher über die Privatadresse gelaufen war? Irgendwann, wenn der Text dann einträfe, würde sich Leskov an diese Frage erinnern, und er würde sich erinnern, daß er sie ein bißchen verwunderlich gefunden hatte. Und wenn es dann noch so sein sollte, daß unter dem Text tatsächlich die private Adresse gestanden hatte -.
    Ob er unter seine wissenschaftlichen Texte die private oder dienstliche Adresse zu schreiben pflege? Eine beiläufige Frage unter Kollegen. Man könnte sie auch in verallgemeinerter Form stellen: Was denn in Rußland üblich sei? Eine Frage aus harmloser Neugier dem fremden Land gegenüber, das nun näher rückte. Aber auch daran würde Leskov sich erinnern, wenn er an dem Umschlag mit der westlichen Marke herumrätselte. Und wenn Perlmann zur Antwort bekam, im allgemeinen werde die dienstliche Anschrift angegeben, so war er noch dümmer dran als vorher: Wenn er jetzt nach dieser Anschrift fragte, so wäre dieses Gespräch das erste, was Leskov in den Sinn käme, wenn er den Umschlag öffnete.
    Kein felsenfester Wille nützte etwas. Es war einfach nicht durchführbar. Nicht, ohne sich preiszugeben.
    Es klopfte an der Tür. Noch während er die Blätter zusammenraffte und den Staub von der Tischplatte blies, merkte Perlmann überrascht, daß die Panik ausblieb. Ohne Zögern, beinahe schon mit einem Gefühl der Routine, schob er den Stoß unter die Tagesdecke und ließ die Zahnbürste in die Hosentasche gleiten.
    Es war das neue Zimmermädchen, das eine Hotelmappe brachte. Seit Tagen schon habe sie eine bringen wollen, sagte sie, aber dann sei es ihr immer wieder aus dem Sinn gekommen. Ob es eigentlich hier nie eine gegeben habe?«Doch», sagte Perlmann und biß sich sogleich auf die Lippen. Das Zimmermädchen sah ihn einen Moment verwundert an und zupfte am Staubtuch in der Schürzentasche. Dann fragte sie, ob sonst alles in Ordnung sei, und ging.
    Noch blieben ein Dutzend Seiten zu reinigen. Daß die Blätter mit den siebziger Ziffern nicht schlimmer aussahen, war verwunderlich. Darüber mußten doch viele Räder hinweggerollt sein. Hieß das, daß darunter noch ein dicker Packen gelegen hatte? Oder bedeutete es das Gegenteil?
     
    Mitten in dieses unschlüssige Überlegen hinein klingelte das Telefon.
    «Ich versuche seit Tagen vergebens, dich abends zu erreichen», sagte Kirsten.«Da dachte ich, jetzt versuchst du’s mal tagsüber. Obwohl das höllisch teuer wird. Ist alles in Ordnung?»Ob er inzwischen mit seinem Beitrag drangewesen sei, fragte sie weiter.«Ist es gutgegangen?»
    Perlmann setzte sich auf den Bettrand und schluckte krampfhaft. Der Hörer wurde feucht.
    «Entschuldige, was frag’ ich bloß», sagte Kirsten mit einem verlegenen Lachen.«Natürlich ist es gutgegangen. Bei dir gehen doch solche Sachen immer gut. Es ist nur: Vorgestern ist Astrid – die Freundin aus der Wohngemeinschaft, ich hab’ dir von ihr erzählt – mit ihrem Referat vollständig auf den Bauch gefallen. Lasker mag sie offenbar nicht und hat sie fertiggemacht. Da ist es mir nachträglich heiß und kalt den Rücken heruntergelaufen.»»
    Nach Hause fahren werde er am Sonntag, sagte Perlmann auf ihre Frage.
    «Du klingst müde. Bist froh, daß es bald vorbei ist, nicht wahr?»
     
    Er blieb auf dem Bettrand

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