Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
besser. Es war eben ganz anders als damals, als er, aus dem Büro des Direktors kommend, vor dem Konservatorium auf die Straße getreten war. Trotz des Regens war er lange durch die Stadt gegangen, ohne Regenschirm, in der Aktentasche die Sachen aus dem geräumten Fach. Dann war er ans Wasser gefahren. Damals war die bestimmende Empfindung die einer großen Befreiung gewesen. Zwar wußte er, daß dahinter, vorläufig noch verdeckt, andere, kompliziertere und weniger angenehme Empfindungen warteten. Aber im Augenblick genoß er es, aus der eisernen Disziplin des Übens entlassen zu sein. Es war eine Erlösung, daß der Kampf mit den Selbstzweifeln ein Ende hatte, und er fühlte sich mit seinen gerade einundzwanzig Jahren ungeheuer erwachsen. Zwar war bald danach ein Gefühl der Leere eingetreten, er wußte nach dem Aufstehen nicht so recht, was er mit der vielen Zeit anfangen sollte, und war froh, daß das Semester an der Universität Hamburg bald begann. Aber geblieben war eine Stimmung der befreienden Einsicht, des Abschlusses und Aufbruchs in etwas Neues. Jetzt, gut dreißig Jahre später, war es auch eine Einsicht, die ihn leitete. Jedenfalls hoffte er das. Aber sie war eingebettet in ein anderes, dunkleres Erleben: in Entfremdung, Müdigkeit und Schuld. Nur Angst war nicht dabei. Etwas würde er schon finden. Irgend etwas. Für Kirsten ist gesorgt. Perlmann war erstaunt, daß die Angst ausblieb. Er wagte kaum, dieser Wahrnehmung zu trauen. Etwas hatte sich verändert in ihm. Eine Entwicklung war in Gang gekommen. Auf einmal fühlte er sich leicht, beinahe heiter.
    Ein Moment des Schweigens war eingetreten. Perlmann schrak auf.«Das also ist mein Gedankengang», sagte Leskov und griff nach einer anderen Pfeife.
    Perlmann hatte, als er das Wort nahm, keine Ahnung, was er sagen würde. Er war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um Leskovs neuerlicher Erläuterung der verteilten Vorlage zuzuhören. Um überhaupt etwas zu haben, worüber er reden konnte, begann er zu erklären, wie er sich Leskovs Gedankengang im ganzen zurechtgelegt hatte. Sie hörten ihm mit betont wohlwollender Aufmerksamkeit zu. Ihren Willen, ihn wegen Dienstag nicht zu verurteilen, ihn trotzdem noch ernst zu nehmen, absolut fair zu sein – diesen Willen meinte er fast sinnlich wahrnehmen zu können als eine besonders intensive Art der Stille, die eintrat, als er zu sprechen begann. Er wählte betont nüchterne, schlichte Formulierungen und benützte Versatzstücke aus der akademischen Rhetorik, die er verachtete. Um zu zeigen, daß er das auch noch konnte. Anfänglich erschrak er, als er merkte, wie er Abschnitt für Abschnitt an seiner Übersetzung entlangging. Es war ihm danach abzubrechen und einfach zu verstummen. Aber er hatte es nicht mehr in der Hand. Der Text, den er nach der Anstrengung des zweimaligen Übersetzens nahezu auswendig kannte, riß ihn mit sich fort, und mit einemmal merkte er, daß er die Gefahr genoß wie ein Hasardeur. Sein Referat, das die Länge eines Diskussionsbeitrags längst überschritten hatte, wurde immer ausgefeilter, flüssiger und engagierter. Er schloß Lücken im Gedankengang, stellte zusätzliche Bezüge her, nannte mögliche Mißverständnisse und räumte sie aus. Evelyn Mistrals Füße spielten mit den roten Schuhen, während sie mitschrieb. Laura Sand rieb sich langsam die Stirn. Rüge und Millar griffen fast gleichzeitig zum Stift. Ich bin rehabilitiert. Mit Hilfe von Leskovs Text.
    Es hätte unnatürlich, ja verräterisch wirken müssen, wenn er beim Sprechen nicht öfter in Leskovs Richtung geblickt hätte. Er half sich, indem er die lächerlichen Zotteln an der Wand fixierte, die in der Linie seines Kopfs lagen. Dabei tauchte einmal das Bild von Kirsten auf, die an den Zotteln zog und über die Staubwolken lachte. Er geriet ins Stocken und fand den Faden erst wieder, nachdem er die Augen mit einer Grimasse geschlossen und wieder geöffnet hatte, die den anderen wie ein epileptisches Zucken vorkommen mußte. Manchmal, wenn es nicht mehr anders ging, sah er Leskov zwar an, nahm sich selbst aber gewissermaßen aus dem Blick heraus und drehte den Kopf bald wieder weg. Erst nachdem er geendet hatte, wandte er sich ihm ganz zu und gab vor, ihn fragend anzublicken.
    Leskov hatte die ganze Zeit über zurückgelehnt auf dem Stuhl gesessen, die mächtigen Oberschenkel übereinandergeschlagen. Aus seinem Mundwinkel waren regelmäßig kleine Rauchwolken entwichen. Als er sich jetzt nach vorne

Weitere Kostenlose Bücher