Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
fassungslosen Gesicht des Rektors konnte er sich gar nicht satt sehen. Doch plötzlich fiel die ganze Szene in sich zusammen, und er fühlte sich erschöpft wie nach einer stundenlangen Rede. Er riß die Blätter mit den Entwürfen in kleine Fetzen. Auf einmal hatte er nun doch Angst.
Die Zahnbürste hatte er am Morgen unbenutzt gelassen. Er holte Leskovs Text aus dem Schrank. An vielen Stellen, wo gestern noch ein Rest Feuchtigkeit gewesen war, ließ sich der Dreck jetzt nach einer leichten Berührung mit den Borsten als Staub wegblasen. Aber nicht nur deshalb war es heute ein anderes Arbeiten. Perlmann hatte plötzlich kein Interesse mehr an den gelben Blättern. Nein, so stimmte es natürlich nicht. Er hatte den felsenfesten Willen, den Text zurückzugeben. Er brauchte nur daran zu denken, wie Leskov vorhin seine Pointe ausgespielt hatte: Dieser Mann mußte seinen Text wiederhaben, auch unabhängig von der Sache mit der Stelle. Nein, es war etwas anderes. Es war ihm mit einemmal gleichgültig, daß er die russischen Wörter für unvermeidlich und erdichtet, die Leskov vorhin so schnell und undeutlich ausgesprochen hatte, nicht kannte und sie nicht in Gedanken in die Tintenspuren der Zwischenüberschrift einpassen konnte. Daß es überhaupt ein russischer Text war – selbst das war ihm gleichgültig. Er reinigte die Blätter jetzt beinahe wie irgendeinen beliebigen Gegenstand. Er verstand den Zusammenhang nicht, aber es hatte damit zu tun, dachte er, daß in der Veranda über den Text geredet worden war. Es war, als hätten ihm die anderen den Text, indem sie von seinem Inhalt erfahren hatten, gestohlen-jedoch ohne ihn dadurch von ihm zu befreien.
Perlmann rief Frau Hartwig an.
«Sie werden vermißt», sagte sie.«Alle fragen, wann Sie kommen. »
Er ließ sich Leskovs private Adresse geben, die einzige, die sie hatten. Das Gespräch wollte er so rasch wie möglich beenden und spürte, wie es Frau Hartwig verletzte, daß er so kurz angebunden war.
«Was soll ich den anderen denn nun sagen, wann Sie kommen?»
«Sie sagen ihnen gar nichts.»
«Ich mein’ja nur», sagte Frau Hartwig steif.
Perlmann betrachtete den Bogen Hotelpapier mit der notierten Adresse. An einer Straßenecke mit Bergen von zusammengekehrtem, schmutzigem Schnee war es gewesen. Leskov hatte die Mappe als Unterlage benutzt und die Adresse auf einen Zettel gekritzelt, der im Wind flatterte.
«Entschuldige, meine Handschrift ist eine Katastrophe», hatte er gesagt, als er merkte, welche Mühe Perlmann beim Lesen hatte. Er zog einen anderen, zerknitterten Zettel hervor und schrieb die Adresse nochmals, jetzt in lateinischen Druckbuchstaben.«Wenn du mir schreibst, dann bitte an diese Adresse», hatte er gesagt.«Es ist sicherer. »Perlmann erinnerte sich an seinen verlegenen Gesichtsausdruck, denn es war dieser Ausdruck, der ihn davon abgehalten hatte zu fragen, ob es wegen der Geheimpolizei sei oder weil er in der Universität kein Büro habe.
Was nützte ihm diese Adresse? Da kam bei Leskov zu Hause ein Umschlag mit dem Text an, bei dem unter anderem die letzte Seite mit der Adresse fehlte. Nach der ersten, riesigen Erleichterung würde er zu grübeln beginnen. Wo hatte der Unbekannte, der die Blätter irgendwo auf seiner Reiseroute gefunden haben mußte, diese Adresse her? Die Sendung kam aus dem Westen. Wer im Westen außer Perlmann kannte diese Adresse?
Das hatte er gestern schon einmal gedacht. Aber war es für Leskov wirklich unausweichlich, ihn zu verdächtigen? Sie kam einem nicht als erstes in den Sinn, man mußte eine Weile nachdenken, aber es gab auch folgende Möglichkeit der Erklärung: Derjenige, der den Text aufgesammelt und verschickt hatte, war zerstreut gewesen oder abgelenkt worden und hatte nach dem Abschreiben der Adresse vergessen, auch noch die letzte Seite in den Umschlag zu stecken. Eine Unachtsamkeit, ein Versehen. Durchaus im Rahmen des Normalen, keineswegs unmöglich. Und war das nicht viel naheliegender als der ungeheuerliche Verdacht gegen Perlmann?
Vielleicht waren die Gründe, die Leskov damals verlegen gemacht hatten, von der Art, daß er auch bei einem solchen Text die private Adresse gebrauchen würde. Vielleicht aber auch nicht. Immerhin unterrichtete er an der Universität, und das würde er auch dann dokumentieren wollen, wenn er dort kein eigenes Büro hatte. Und das Thema war politisch neutral, jedenfalls in den Augen von Schergen der Geheimpolizei. Ferner: Sagten nicht Kollegen aus dem Osten
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