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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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rhetorischen Fragen abschoß und dabei alle der Reihe nach ansah, entfaltete sich endlich die ganze befreiende Wirkung seines Entschlusses. Es geschah mit der Wucht eines körperlich spürbaren Schubs. Als letzten sah er Silvestri an. Der unrasierte Italiener begegnete ihm mit einem Blick voller klinischer Neugier. Dieser Blick, dachte Perlmann, war das einzige, was er an ihm nicht mochte.
    Etwas, worüber er nun gar nicht gesprochen habe, sagte Leskov, sei die Idee, daß man sich seine Vergangenheit durch erzählerisches Erinnern aneignen könne. Für jemanden wie ihn, der den erfindenden, den schöpfenden Charakter des Erinnerns herausstellen möchte, sei das natürlich ein problematischer Gedanke. Und für mehr als eine Andeutung reiche die Zeit nicht mehr. Er warf Perlmann einen Blick zu.«Vor allem muß man sich klarmachen, daß das erzählende Selbst nichts anderes ist als die erzählten Geschichten. Außer den Geschichten gibt es da nichts. Oder besser: niemanden.»Er lächelte.«Die meisten Leute finden das eine schockierende Behauptung. Ich habe nie verstanden, warum. Ich finde es ganz angenehm, daß es so ist. Irgendwie... befreiend.»
    «Eine Frage, Vasilij», sagte Millar.«Meinen Sie wirklich creating und inventing, wenn Sie vom Erinnern sprechen? Ich vermute, Sie meinen eher creative und inventive. Da könnte ich schon eher mitgehen. »
    Leskov sah zu Perlmann hinüber.«Was für ein Unterschied ist das auf deutsch?»
    «Erschaffend und erdichtend gegenüber schöpferisch und erfinderisch», sagte Perlmann.
    Leskov lächelte.«Ach so. Nein, Brian, ich fürchte, ich meine das erste. »
    Millar sah auf die Uhr. Rüge schob die Papiere zusammen und begann, mit dem Bleistift zu spielen. Aber Laura Sand hatte noch eine Frage. Ob das nicht am Ende auf die Behauptung hinauslaufe, daß das, was man für seine erlebte Vergangenheit halte, eine bloße Erdichtung sei?
    Leskov kräuselte die Lippen und nickte mit lachenden Augen. Einer der Zwischentitel in seinem neuen Text laute: Neizbežno vydumannoe prošloe, die unvermeidlich erdichtete Vergangenheit, sagte er.
    «Moment.»Ruge schob die Unterlippe vor und lehnte sich mit beiden Ellbogen weit nach vorn auf den Tisch.«Gibt es dann überhaupt eine wahre Geschichte über die erlebte Vergangenheit?»
    Silvestri sog den Rauch hörbar ein. Laura Sand zog sich spielerisch eine Haarsträhne übers Gesicht. Man konnte Leskov ansehen, daß er diesen Augenblick am liebsten für immer festgehalten hätte. Noch nie, so schien es, hatte dieser Mann einen Augenblick derart genossen. Perlmann hätte ihm dieses Gesicht nicht zugetraut. Es war das gelöste Gesicht von einem, der jegliche Angst abgestreift hat und nun ganz bei sich selbst ist. Perlmann mochte es.
    «Nein, eine wahre Geschichte über die erlebte Vergangenheit gibt es nicht», sagte Leskov mit dem Pfeifenstiel an der Lippe.«Natürlich nicht. Klim Samgin. »Seine grauen Augen waren sehr hell und sehr klar, und ihre Herausforderung bestand in nichts weiter als dieser Helligkeit und Klarheit.
    Der Bleistift in Ruges Händen brach mit einem lauten Knacken entzwei. Millar zog einen Film aus der Tasche der Windjacke und griff nach der Kamera. Von Levetzov lächelte verständnisvoll, als er das sah.
    Beim Aufstehen ging Silvestri nach vorn und lud Leskov zu einem Drink in der Bar ein. Ob sie mitgehen dürfe, fragte Laura Sand. Über diese freche These möchte sie mehr erfahren.

47
     
    Die Schritte, mit denen Perlmann nachher im Zimmer auf und ab ging, waren übertrieben behutsam und zugleich ziellos. Oft unterbrach er sein ruheloses Gehen, verschränkte die Arme und senkte den Kopf auf die Brust. Wie machte man das: eine Professur aufgeben? Wie lauteten die Sätze in den erforderlichen Briefen? Lakonisch mußten sie sein. Er setzte sich an den Schreibtisch und machte Entwürfe. Die Texte wurden immer kürzer. Auch Wörter, die zum Minimum zu gehören schienen, kamen ihm beim erneuten Durchlesen überflüssig vor. Am liebsten hätte er nur geschrieben: Ich habe genug und bitte um meine Entlassung. Man würde eine Begründung verlangen. Nach einer Weile merkte er, daß er in Gedanken dem Rektor gegenübersaß, einem kleinen, bleichen Mann mit schiefem Mund, schnurgeradem Scheitel und tadellosen Bügelfalten. Sie möchten wissen, warum? Ganz einfach: Ich habe soeben meine berufliche Unfähigkeit entdeckt. Das war die Begründung, die ihm am besten gefiel. Vor allem, wenn es ihm gelänge, sie lachend vorzutragen. Am

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