Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
sitzen, bis ihn die Sonne blendete, die eine Lücke im Hochnebel gefunden hatte. Dann zog er einen Vorhang vor und wischte die letzten beiden Seiten ab, die nur an den Rändern schmutzig waren. Langsam blätterte er den ganzen Stoß durch, um ihn schließlich haargenau auszurichten. Leskov würde zurechtkommen. Beim Abschreiben des Ganzen mit der Maschine konnte er die Lücken aus dem Gedächtnis füllen. Es sei denn, am Ende fehlte ein großes Stück. Am meisten, weißt du, ärgert mich, daß ich die komplizierte Geschichte über Erfindung und Aneignung nicht mehr zusammenkriege. Dabei steht es alles da, schwarz auf weiß. In Petersburg. Hoffentlich.
Perlmann nahm die letzte Seite zur Hand. Wenn er sich durch das Schlachtfeld von Durchgestrichenem und Eingefügtem hindurchkämpfte, würde er vielleicht abschätzen können, ob danach noch viele Seiten kamen. Aber gleich oben links kamen zwei Wörter, die er nicht entziffern konnte, und das übernächste kannte er nicht. Eine lähmende Müdigkeit setzte ein. Nie wieder. Er schob das Blatt unter den Stoß.
Der Umschlag, in dem er Leskov den Text schickte, mußte besonders strapazierfähig sein. Geradezu wetterfest. Perlmann sah ihn auf einem offenen Postwagen liegen. Es war auf einem verlassenen russischen Bahnhof, es wurde Nacht, und der Schnee fiel in dicken Flocken. Es nützte nichts, sich zu sagen, daß das Unsinn war, weil die Sendung ja per Flugzeug direkt nach St. Petersburg ging. Auf dem ganzen Weg zum Schreibwarengeschäft und auch in dem Moment, als er die Hand energisch auf den Türgriff des Ladens legte, sah er den verlassenen Bahnsteig vor sich und den Schnee, der auf den Umschlag fiel.
Das Geschäft war noch zu. Die Siesta vergessen und dann dumm vor einem geschlossenen Laden stehen – plötzlich kam ihm das vor wie eine Erkennungsmelodie für den ganzen Aufenthalt. Verschämt blickte er sich um, ob ihn jemand beobachtet hatte. Aber außer einem gebückten, alten Mann, der von seinem Hund fast umgerissen wurde, war niemand zu sehen. Im Schaufenster, wo die Chronik gestanden hatte, war bereits eine Weihnachtskrippe aufgebaut. Langsam begann er seinen Rundgang um den Häuserblock. Als an der Ecke jemand mit einem Stab den eisernen Rolladen einer Apotheke hochschob, wartete er und kaufte dann eine neue Zahnbürste.
Bis wann er den Text vorlegen mußte, damit es mit der Stelle klappte, davon hatte Leskov nichts gesagt. Doch auch unabhängig davon hätte Perlmann den Text am liebsten noch heute nachmittag zur Post gebracht. Bis Sonntag abend, wenn Leskov aufgeregt die Wohnung betrat, konnte er auf keinen Fall dort sein. Aber der Gedanke an die Tage, die Leskov in der Annahme verbringen mußte, der Text sei unwiederbringlich verloren, war unerträglich, und Perlmann wollte, daß dieser Alptraum für ihn keine Stunde, keine Minute länger dauerte als nötig.
Aber natürlich war es ausgeschlossen, ihn von hier aus zu schicken, mit dem Stempel von Santa Margherita. Sollte er nachher gleich nach Genua fahren und ihn dort aufgeben? Vorgestern, beim Aufzählen der Orte, wo er den Text vergessen haben könnte, hatte Leskov in Frankfurt aufgehört. Daß er ihn in der Maschine der Alitalia vergessen hatte, schien für ihn keine Möglichkeit zu sein. Oder war es nur Zufall, daß er sie nicht erwähnt hatte? Wenn es aber einen Grund dafür gab und er die Gewißheit hatte, daß es auf dem Flug nach Genua nicht geschehen sein konnte, so wäre der Stempel von Genua kaum weniger verräterisch als der hiesige. Nein, von Italien aus konnte er den Text auf keinen Fall abschicken. Er mußte es in Frankfurt tun. Dort war er aber erst Sonntag mittag, und das bedeutete für Leskov drei weitere Tage Verzweiflung.
Perlmann sah auf die Uhr. Es gab noch den Abendflug um sechs. Aber zurück käme er heute nicht mehr, und nach allem, was geschehen war, konnte er Silvestris Sitzung morgen früh unmöglich fernbleiben. Der morgige Nachmittag und Abend kamen ebenfalls nicht in Frage: Das waren die letzten gemeinsamen Stunden der Gruppe, und er würde sich endgültig unmöglich machen, wenn er da einfach verschwand. Blieb der Samstag, wenn morgens alle außer Leskov abgereist waren. Leskov konnte den Nachmittag allein verbringen, und zu einem gemeinsamen Abendessen war er wieder zurück. Immerhin ein Tag der Verzweiflung weniger.
Perlmann beschleunigte den Schritt und ging zum Reisebüro, das in einem anderen Teil des Orts lag. Auch hier mußte er noch zehn Minuten warten, in denen er
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