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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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bestechenden Einfachheit enthielt das, was Evelyn Mistral gesagt hatte, ein verlockendes Angebot zur Selbsttäuschung, dem Perlmann in diesem Moment nicht widerstehen konnte. Er hatte eine soziale Ungeschicklichkeit begangen, einen ganz einfachen Fehler gemacht. Er wollte die Ruhe genießen, die in dieser Einsicht lag. Das konnte jedem passieren. An so etwas konnte man arbeiten. Man konnte es in Zukunft vermeiden. Und in drei Tagen um diese Zeit war er zu Hause.
    «Du hast vollkommen recht», sagte er,«es war ein Fehler, nichts zu sagen.»Es klang flach, beinahe wie ein bloßes Lippenbekenntnis, und so fügte er nach einer Pause hinzu:«Es ist manchmal so schwer.»Er hoffte, daß er mit dem gequälten Gesicht nicht übertrieb.
     
    Ruge, Millar und von Levetzov ließen sich mit gespielter Erschöpfung auf die Stühle fallen und stellten die Einkaufstaschen mit den Geschenken unter den leeren Nebentisch. Perlmann hatte sie von weitem kommen sehen und hatte den Umschlag mit einer Bewegung, die einem Reflex glich, vom Tisch genommen und ans Stuhlbein gelehnt.
    «Genau zur gewohnten Zeit», lächelte Evelyn Mistral mit einem Blick auf die Uhr.
    «Ja», sagte Millar mit einem nostalgischen Seufzer,«beim erstenmal, vor einem Monat, war es um diese Zeit noch hell. Ich werde diese täglichen Treffen vermissen.»Er sah Perlmann an.«Nur schade, daß Sie nie dabei waren. »
    Die anderen nickten. Perlmann fror, und als er die Jacke zuknöpfte, schlug die Diskette mit einem leisen, dumpfen Geräusch gegen die Armlehne.
    «Aber wenn ich mir vorstelle», fuhr Millar fort,«daß mir dasselbe zustieße wie Ihnen – also, ich glaube, ich hätte zu überhaupt nichts mehr Lust. -Außer segeln», fügte er grinsend hinzu.
    Die Bemerkung verschlug Perlmann einen Augenblick lang den Atem, und er spürte, wie die Augen feucht wurden. Achim Ruge mußte gesehen haben, daß in seinem Gesicht etwas vorging. Mit einem Ausdruck und einer Stimme, die Perlmann nicht für möglich gehalten hätte, begann er von seiner viel jüngeren Schwester zu erzählen, die er sehr geliebt hatte. Er habe nicht im Traum daran gedacht, daß sie Drogen nehmen könnte. Bis man sie tot aufgefunden habe.
    «Wissen Sie», sagte er auf deutsch zu Perlmann, und seine hellgrauen Augen schienen noch wäßriger zu sein als sonst,«danach bin ich für fast ein Jahr praktisch ausgefallen. Im Labor ging es drunter und drüber, ich mußte Vorlesungen absagen, und meine Gereiztheit den Kollegen gegenüber wurde sprichwörtlich. Nichts schien mehr einen Sinn zu haben. »
    Oberflächlich, dachte Perlmann, die Angst vor ihnen hat mich erschreckend oberflächlich gemacht. Derart oberflächlich, daß er ihnen nicht einmal mehr die elementarsten, die selbstverständlichsten Regungen und Reaktionen zugetraut hatte. Sonst fiele er jetzt nicht aus allen Wolken. Angst machte die anderen größer und stärker als sie waren, und zugleich wurden sie kleiner und primitiver. Hätte er nicht am Samstag morgen zu ihnen gehen und ihnen seine Kurzschlußhandlung erklären können? Und wäre das nicht auch zu einem späteren Zeitpunkt noch möglich gewesen?
    «Ich könnte mir vorstellen», sagte von Levetzov,«daß Ihnen die Einladung nach Princeton jetzt gar nicht gelegen kommt. »
    Perlmann nickte, und wieder überraschte ihn das Verständnis, auf das er da plötzlich stieß. War es vielleicht nicht nur so, daß die Angst ihn oberflächlich gemacht hatte, sondern auch so: Die Angst war entstanden, weil sein Blick von vornherein oberflächlich gewesen war -weil er ihnen kein Verständnis und also keine Tiefe zugetraut hatte?
    «So etwas kann man verschieben», fügte von Levetzov hinzu.
    «Kein Problem», bestätigte Millar, den er fragend angesehen hatte.
    Das überlege er tatsächlich, sagte Perlmann und versuchte, von Levetzov mit einem besonders offenen und persönlichen Blick anzusehen, um sich für die Schroffheit beim Frühstück zu entschuldigen. Eine persönliche Beziehung zu Adrian von Levetzov gelang in Anwesenheit der anderen leichter als unter vier Augen. Als Perlmann das merkte, wurde er sehr verwirrt. Auf einmal hatte er den Eindruck, von den Menschen und ihren Beziehungen zueinander nicht das geringste zu wissen.
    Die anderen schienen Leskov nicht zu sehen, der watschelnd und rudernd der Stadt zustrebte. Perlmann hatte ihn zunächst nicht erkannt, denn heute abend trug er eine Schirmmütze, die auf den Wülsten seines Nackens auflag und dadurch zu klein erschien. Wenn er nur

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