Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
gleiten. Perlmann wartete mit halbgeschlossenen Augen und ärgerte sich über sein Herzklopfen. Der Kellner drehte den Kopf zurück und schrieb. Mitten in der Schreibbewegung hielt er inne, die Augen verengten sich, und nach einem weiteren reglosen Moment drehte er ruckartig den Kopf und sah Perlmann an, der unter dem Tisch die Hände ineinanderpreßte. Der Kellner schob die Unterlippe vor, wandte den Blick langsam ab, und es sah aus, als wolle er weiterschreiben. Doch dann ließ er Stift und Block in die Jackentasche gleiten, drehte sich abrupt um und ging mit schnellen Schritten durch die Schwingtür.
    «Was hat er denn?»fragte Laura Sand irritiert und klopfte mit dem Rücken der Speisekarte rhythmisch gegen die Tischkante.
    «Keine Ahnung», sagte Perlmann, als sie ihn fragend ansah.
    Der Oberkellner im schwarzen Smoking blieb mit verschränkten Armen vor der Schwingtür stehen und folgte dem Kellner, der zu ihrem Tisch zurückkehrte, mit einem wütenden Blick. Der Kellner wandte sich an Laura Sand.
    «Scusi, Signora», sagte er gepreßt,«würden Sie Ihre Bestellung bitte wiederholen?»
    Nachher blätterte er im Block die Seite um und sah, ohne Perlmann eines Blickes zu würdigen, Millar an. Der sah, von der Stille überrascht, auf, warf einen Seitenblick auf Perlmann neben ihm und sagte in einem kühlen Ton, um den ihn Perlmann beneidete:
    «Sie scheinen jemanden zu vergessen. »
    Der Kellner rührte sich nicht, hob bloß den Blick über Millars Kopf und sah in den Raum hinein. Der Oberkellner wollte sich gerade in Bewegung setzen, da gab Perlmann in trockenen, abgehackten Worten seine Bestellung auf. Der Kellner führte den Stift zum Block, schrieb aber nicht. Dann sah er wieder Millar an, der ihm nach einem kurzen Zögern mit hochgezogenen Brauen seine Wünsche diktierte.
    Sie habe von dem Unglück mit seiner Frau keine Ahnung gehabt, sagte Laura Sand. Warum er denn nichts gesagt habe. Es wäre dann manches leichter zu verstehen gewesen.
    «Sie hat recht», sagte Millar, und bei ihm klang es bereits wieder wie eine Rüge.
    «Ich weiß es nicht», sagte Perlmann und war froh, daß in seiner Stimme noch nichts von dem Ärger zu hören war, der in ihm aufzusteigen begann. Jetzt, nachdem sie seinen Zusammenbruch erlebt hatten und er einstweilen als Rivale und Gegner im akademischen Spiel ausfiel – jetzt redeten sie alle so verständnisvoll, waren voller Großmut und schienen nicht das geringste Gespür dafür zu haben, wie abstoßend moralische Selbstgefälligkeit sein konnte. Hätten sie auch dann so gedacht und geredet, wenn nichts derart Dramatisches mit ihm geschehen wäre, nichts, was in die Nähe einer Krankheit kam? Oberflächlichkeit als Wirkung und Ursache von Angst; das stimmte. Andererseits: Wie genau hätte er es denn sagen sollen? Wo waren die einzelnen Wörter, aus denen sich seine Erklärung zusammengesetzt hätte? Wie hätten die Gesichter beim Hören seiner Eröffnung im einzelnen ausgesehen? Und wann genau hätte er sie denn machen sollen? Perlmann war wütend über die Oberflächlichkeit ihrer Großmut, über ihren Mangel an präziser Phantasie. Mit jeder Frage nach Einzelheiten, die ihm durch den Sinn ging, wuchs die Wut weiter, er wurde blind und taub für die Umgebung und merkte nicht, daß ein langes Stück seiner Asche auf das frisch gestärkte, blütenweiße Tischtuch fiel.
    Die anderen hatten ihr Essen längst vor sich stehen, als Perlmann immer noch nichts hatte. Der Kellner, der ihn beim Servieren wie Luft behandelt hatte, ließ Minute für Minute auf sich warten, und es entstand eine verlegene Stille, in der die anderen ratlose Blicke auf seinen leeren Teller warfen. Gerade hatte Perlmann den Stuhl zurückgeschoben, um sich auf die Suche nach dem Oberkellner zu machen, da brachte ihm der Kellner mit eisigem Gesicht seine Piccata Milanese und schob den Teller mit einem lauten Klappern auf den Unterteller, wobei er mit gezielter Achtlosigkeit dafür sorgte, daß er schräg zu stehen kam. Die anderen begannen wieder zu reden.
    Perlmann wußte es bereits nach dem ersten Bissen: Dieses Gericht war nach dem Anrichten für eine Weile in den Kühlschrank gestellt worden. Innen war es noch warm, aber die Oberfläche war abgekühlt, und die Kälte fühlte sich auf der Zunge künstlich an. Die Tomatensauce war besonders kalt, und die äußerste Schicht am Käse war wie Gummi. Er hielt Ausschau nach dem Oberkellner, stand dann auf und ging auf die Schwingtür zu. Der Kellner, soviel ließ sich

Weitere Kostenlose Bücher