Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
gerade noch erkennen, hatte beobachtend hinter dem Fensterchen der Tür gestanden. Jetzt stieß er die Tür mit dem Fuß auf und trat Perlmann herausfordernd gegenüber.
«Mein Essen ist kalt», sagte Perlmann so laut, daß die Leute an den anderen Tischen sich umdrehten. Der Kellner kaute an der Lippe und sah ihn mit einem haßerfüllten, verächtlichen Grinsen an. Dann ging er mit betont schleppendem Schritt zu Perlmanns Platz, nahm den Teller und verschwand mit einem beredten Kopfschütteln, das Perlmann des Querulantentums beschuldigen sollte, in der Küche. Als das Essen kurze Zeit danach wieder vor Perlmann stand, schmeckte es aufgewärmt und abgestanden, und er ließ es nach wenigen Bissen stehen.
Es war nicht nur, daß sie es als viel zu einfach darstellten, wenn sie ihm jetzt den freundschaftlich gemeinten Vorwurf machten, daß er nichts gesagt und ihr Verständnis nicht in Anspruch genommen hatte. Viel schlimmer war, daß er mit überhaupt keinem Verständnis rechnen dürfte, wenn er ihnen die Wahrheit sagte: daß ihm die Wissenschaft und ihre Lebensform seit langem schon entglitten und fremd geworden waren. Während er, um nicht zu sehr aufzufallen, hin und wieder in seinem Essen stocherte, das er nur noch als einen gelblich-roten, ekligen Brei sehen konnte, wurde Perlmann klar, daß die Wut, die in ihm kochte, eigentlich viel mehr diesem tieferen Unverständnis galt als dem vereinfachenden Gerede über eine versäumte Erklärung zu seiner persönlichen Situation.
Vorhin im Cafe hatte er sich für einen Moment dankbar in den Gedanken hineinfallen lassen, daß seine Not eben doch durch die Erschütterung entstanden war, die Agnes’ Tod bedeutet hatte. Das gab es, dachte er jetzt mit Erstaunen: Man flüchtete sich in einen Gedanken hinein, den man schon zahllose Male als trügerisch entlarvt hatte, und man tat es und zog die Blindheit vor, weil man Ruhe haben wollte, Ruhe vor den irrlichternden Fragen, die einen bedrängten, wenn man sich die Wahrheit eingestand. Und natürlich hatte das vorhin auch etwas damit zu tun gehabt, daß es gerade Evelyn Mistral war, die ihm diesen alten, verführerischen Gedanken nahegelegt hatte. Jetzt aber, während er angewidert auf seinen Teller blickte und darauf wartete, daß er endlich würde rauchen können, wurde Perlmann erneut von Wut gepackt bei dem Gedanken, daß sie ihn durch ihre Verständnislosigkeit dazu zwangen, die Ausrede mit Agnes unwidersprochen stehenzulassen und seinen Schmerz auch noch durch eine Lüge zu verzerren.
Wie stand es mit dieser Verständnislosigkeit wirklich? Endlich konnte er sich eine Zigarette anzünden, und die Konzentration auf diese Frage half ihm, den Kellner zu ignorieren, der ihn beim Abräumen absichtlich mit dem Teller am Ärmel streifte. Er ging die Kollegen nacheinander durch, indem er, wenn der nächste an der Reihe war, einen verstohlenen Blick auf sein Gesicht warf. Nein, bei dieser Frage war es nicht so, daß er die anderen aus Angst unterschätzte. Selbst von Evelyn Mistrals Gesicht, das von Wein und Lachen gerötet war, durfte er sich nicht täuschen lassen. Wenn er die Augen schloß, schob sich ihr Kopf mit dem aufgesteckten Haar und der Brille über das eben wahrgenommene Bild. Der einzige, dem er ein Verstehen zutraute, war Giorgio Silvestri. Aber der stand ohnehin nicht für die gefürchtete, die gehaßte akademische Welt. Und dann: Könnte er wirklich nachvollziehen, daß einer allem Forschen, allem Wissenwollen gegenüber von einer unheilbaren Gleichgültigkeit befallen wurde? Perlmann bezweifelte es, als er ihm jetzt zusah, wie er sich beim Sprechen angespannt nach vorn beugte und mit Daumen und Zeigefinger das Zeichen der Genauigkeit machte.
Beim Kaffee kam die Rede auf die Lehrverpflichtungen, welche die Kollegen erwarteten, wenn sie wieder zu Hause waren. Mitten im Zuhören fiel Perlmann plötzlich ein, daß er heute beim Frühstück, als von Levetzov ihn fragte, gar nicht seine bevorstehenden Lehrveranstaltungen beschrieben hatte, sondern diejenigen vom vergangenen Semester. Und während sein Rauchen immer hektischer wurde, stellte er mit wachsender Beklemmung, die fast zur Panik wurde, fest, daß es ihm mit den Veranstaltungen, die nächste Woche begannen, ging wie mit einem blockierten Namen: Er hatte ihre Themen auf der Zunge, sie waren ihm gegenwärtig in Form einer vagen Empfindung, aber jeder Versuch, sie in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit zu holen, mißlang, die Titel und genauen Fragestellungen
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