Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
einer schneidenden Handbewegung begleitete, sein kleines, unbeholfenes Repertoire von italienischen Schimpfwörtern immer von neuem wiederholt, wobei die Wahrnehmung der engen sprachlichen Grenzen seine Wut zusätzlich schürte. Je länger es dauerte, desto unförmiger wurde der Kellner, und die Gestalt war Leskov immer ähnlicher geworden. In einem Raum, der nicht mehr der Speisesaal war, hatte Perlmann ihm vorgehalten, daß er von seinem Text keine Kopie gemacht habe, wobei seine Vorwürfe lauter und lauter wurden, da Leskov den Eindruck machte, als höre er überhaupt nicht zu. Aus dem stillen, unerreichbaren Leskov war dann eine blasse, beinahe gesichtslose Figur geworden, die aber trotz ihrer Schemenhaftigkeit eindeutig der Rektor war. Perlmann hatte so gnadenlos und gründlich mit ihm abgerechnet wie noch mit keinem Menschen zuvor. Mit hämmerndem Herzen hatte er Anklage nach Anklage hinausgeschrien, bis ihm die Stimme versagte. Er machte den Rektor verantwortlich für alles Papierene und Tote in der Welt der Universität, er rechnete ihm das Mißtrauen, die Mißgunst und die Angst vor, die in jener Welt regierten, er beschimpfte ihn als den Urheber aller Wichtigtuerei, und schließlich machte er ihn auch noch persönlich haftbar für die Jahrzehnte des Lebens, die er durch seinen Beruf verloren habe. In dem Moment, wo er ihm die Frage entgegenschleuderte, warum er ihn daran gehindert habe, Dolmetscher zu werden, merkte er, daß gar niemand mehr im Raum war und daß seine heiseren Worte in einer gespenstischen Leere verhallten. Über dem Gefühl der Ohnmacht, das ihn daraufhin überfiel, war er schließlich aufgewacht.
Er bestellte Kaffee und setzte sich nach dem Duschen an den Schreibtisch. Waren seine Briefe an den Rektor gestern immer kürzer geworden, so geschah heute das Umgekehrte. Zwar stemmte er sich mit Macht gegen die Bitterkeit und Erregung, die auch jetzt noch in ihm nachhallten. Er wollte nicht, daß sein Kündigungsschreiben von diesen Empfindungen bestimmt sei – daß es gewissermaßen eine verspätete Episode innerhalb des Traums sei. Jedes scharfe Wort strich er sofort wieder aus und ersetzte es durch einen Ausdruck von betonter Neutralität und Nüchternheit. Auf diese Weise kamen Texte zustande, deren Tonfall immer mehr demjenigen der Aktensprache glich. Und dennoch konnte er nicht verhindern, daß sie zu Anklageschriften gerieten, zu langen und immer längeren Begründungen, in denen Beleg auf Beleg getürmt wurde für die Behauptung, daß ein Leben, das sich durch die Wissenschaft und ihren Betrieb bestimmen lasse, zwangsläufig zu einem entfremdeten Leben werden müsse, einem Leben, das sich verfehle. Wie ein Süchtiger schrieb er immer weiter, und jeder neue Entwurf war noch ausgreifender und weitläufiger als der letzte.
Es war schon nach halb neun, als er erschöpft und zittrig innehielt. Eine Weile stand er am Fenster und blickte in den strömenden Regen hinaus. Noch zwei Tage. In fünfzig Stunden war er am Flughafen und wartete auf den Heimflug. Und morgen war er den halben Tag unterwegs, da ging die Zeit schneller vorbei. Mit Wartelisten beim Fliegen hatte er bisher stets Glück gehabt.
Er überflog die letzte Seite, die er geschrieben hatte. Dann schob er die vielen Blätter zusammen und warf den ganzen Stoß in den Papierkorb. Es war kein allgemeines Problem von Wissenschaftlern, oder gar ein Problem der Wissenschaft überhaupt. Es war ein Problem seiner ganz besonderen Lebensgeschichte. Weiter nichts. Daraus eine Ideologie zu machen, war Unfug. Im Grunde war ihm das auch immer klargewesen. Letztlich war die ganze Schreiberei heute morgen eben doch zu einer Verlängerung des Traums geworden. Und jetzt hatte er sich auch noch um das Frühstück gebracht, zu dem er, wie er verwundert dachte, heute ganz gerne gegangen wäre.
Giorgio Silvestris Sitzung war ein einziges Chaos. Es begann damit, daß er die Hälfte seiner Unterlagen im Zimmer vergessen hatte und noch einmal hinauf mußte. Als er sich dann in seiner Unordnung endlich zurechtgefunden hatte, begann er mit einem Vortrag, der keinen Aufbau hatte und lange Zeit auch kein Ziel zu haben schien. Er sprach über typische Sprachstörungen bei Schizophrenen, in denen Denkstörungen zum Ausdruck kamen. Sein technischer Wortschatz, so hatte man den Eindruck, war selbstgestrickt und eigenbrötlerisch, und er gab sich nicht die geringste Mühe, ihn einzuführen. Zwar war nach einiger Zeit ziemlich leicht zu erkennen, wie man ihn in
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