Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
gewohnte Begriffe übersetzen konnte. Aber daß man das selbst herausfinden mußte, machte einen gereizt. Hinzu kam, daß Silvestris englische Aussprache an diesem Morgen viel schlechter war als sonst; irgendwie schien ihm der Mund nicht recht zu gehorchen. Das war besonders störend bei den Beispielsätzen, die er nur italienisch vor sich hatte und aus dem Stegreif übersetzte. Man wußte oft nicht, wieviel von ihrem sonderbaren Klang wirklich auf die Patienten zurückging, was an Silvestris stockender Art des Vorlesens lag, und ob nicht zusätzliche Verzerrungen durch das Übersetzen des schwierigen sprachlichen Materials entstanden. Bald fingen die Kollegen an, Ornamente in ihre Notizbücher zu malen, und selbst Evelyn Mistral, die am Anfang aus Sympathie für Silvestri über das Chaotische des Vortrags gelächelt hatte, begann Ungeduld zu zeigen.
Wieder einmal war es soweit, dachte Perlmann: Er fühlte sich von jemandem, an dem er sich innerlich festgehalten hatte, im Stich gelassen. Silvestri – das war doch der Mann mit dem wichtigen und ehrlichen Beruf, der ihm die nötige innere Distanz gab, so daß er mit der Zeitung über dem Kopf im Liegestuhl sitzen und während der Sitzungen auf dem Stuhl balancieren konnte; der Mann, der ihm geraten hatte, das Ganze nicht so wichtig zu nehmen; und schließlich auch der Mann, der mit seinen Aufzeichnungen etwas hatte anfangen können. Und nun saß er da vorn, drehte schon zum zweitenmal die leere Kaffeekanne um und warf immer öfter unsichere Blicke in die Runde. Seine Bartstoppeln waren mit einemmal nicht mehr Ausdruck von Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit, sie wirkten nur noch ungepflegt, die Haut kam Perlmann noch bleicher vor als sonst, und jetzt entdeckte er zum erstenmal einen kleinen Furunkel an seinem Kinn. Dein Konsum an Helden, hörte er Agnes sagen, und er wußte nicht, über wen er sich mehr ärgern sollte: über sie oder über diesen Italiener, der ihr wieder einmal recht zu geben schien.
Jetzt schob Silvestri die Blätter beiseite, zündete eine neue Zigarette an und begann, die Grundgedanken seiner Untersuchung zu erläutern. Er war kein Redner, und es wurde kein flüssiger, suggestiver Vortrag. Trotzdem merkte Perlmann mit wachsender Erleichterung, daß dieser Mann etwas zu sagen hatte. Auch Leskov, der bisher unglücklich ausgesehen und mehrmals leise geseufzt hatte, entspannte sich, und Laura Sand begann, Notizen zu machen. Es steckten viele Jahre Arbeit mit Schizophrenen hinter dem, was Silvestri entwickelte, und eine schier unerschöpfliche Geduld im Zuhören. Sein weißes Gesicht mit den dunklen Augen war jetzt sehr konzentriert, und als er mit Bewunderung von Gaetano Benedetti sprach, den er für den bedeutendsten Schizophrenieforscher hielt, spürte man, mit was für einer Leidenschaft er bei der Arbeit war.
Das Geräusch von reißendem Papier zerschnitt die Stille, die eingetreten war, als Silvestri nach einem Zitat von Benedetti suchte. Millar hatte einen Zettel aus seinem Notizbuch gerissen, schrieb jetzt etwas und schob ihn dann mit einer flapsigen Handbewegung zu Ruge hinüber, der heute einen Platz weiter hinten saß als gewohnt. Im letzten Augenblick mußte er gespürt haben, daß er sich danebenbenahm, denn sein Arm zuckte, als wolle er den Zettel aufhalten. Aber es war zu spät, der Zettel rutschte zur Tischkante und segelte zu Boden, wo er vor Silvestris Augen liegenblieb. Perlmann mußte den Hals ein bißchen verrenken, dann konnte er es lesen: De Benedetti?!
Silvestri, der das Blatt mit dem Zitat endlich gefunden hatte, sah auf, folgte den Blicken der anderen und las den Zettel. Augenblicklich erstarrte er, sein Gesicht verfärbte sich, und er schloß die Augen. Niemand rührte sich. Millar sah vor sich auf die Tischplatte. Eigentlich, dachte Perlmann, war es nur ein Schnack, ein pennälerhafter Unfug. Aber in diesem besonderen Moment mußte Silvestri es wie einen Schlag ins Gesicht empfinden: Vor kurzem hatte Carlo De Benedetti, der Präsident von Olivetti, wegen seiner früheren Verwicklung in eine Bankpleite vor Gericht gestanden. Wenn man das wußte, so ließ der rötliche Zettel auf dem glänzenden Parkett die Welt des Geldes, der Macht und der Korruption vor einem entstehen. Es war nur ein Scherz und auch nicht im entferntesten eine heimtückische Anspielung. Soviel war sicher auch Silvestri klar. Aber es war in diesem Augenblick bereits zuviel für ihn, daß jemand, während von Gaetano Benedettis aufopferungsvoller
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