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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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aus seiner Betrachtung riß. Es galt offenbar der Art, wie sich Silvestri gegen Zweifel an seiner Methode verteidigte. Er hatte sich so lange und so hingebungsvoll mit seinen Patienten beschäftigt, daß er die unumstößliche Gewißheit besaß, das Muster ihrer Sprach- und Denkstörungen in der Tiefe verstanden zu haben. Was ihn, wissenschaftlich gesehen, angreifbar machte, war die Weigerung, sich bei der Arbeit von irgend jemandem über die Schulter gucken und kontrollieren zu lassen. Einen theoretischen Zusammenhang gab es da nicht, dachte Perlmann, aber irgendwie konnte diese Weigerung niemanden überraschen, der das gefährliche Glitzern kannte, das in Silvestris Augen trat, wenn von verriegelten Anstaltstüren die Rede war. Dieser Mann war ein Einzelgänger und Unabhängigkeitsfanatiker, der in einer Klinik wie ein Anarchist wirken mußte, ein Anarchist freilich, in dessen Büro das Licht auch dann noch brannte, wenn die Kollegen vom Teamwork längst zu Hause waren. Deine heldensüchtige Phantasie. Agnes war stolz auf diese Wortschöpfung gewesen.
    «Vielen dieser Menschen habe ich jahrelang zugehört», sagte Silvestri mit unerschütterlicher Ruhe.«Ich weiß, wie sie sprechen und denken. Ich weiß es genau. Wirklich ganz genau. »
    Rüge gab seufzend auf, und es trat eine unbehagliche Pause ein, so daß Silvestri seine Sachen zusammenzupacken begann. Da setzte sich Millar demonstrativ auf dem Stuhl zurecht, stützte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch und wartete, bis Silvestri seinem Blick begegnete.
    «Look, Giorgio...», begann er, und die Verwendung des Vornamens klang wie Hohn. Und dann belehrte er Silvestri über die Sicherung und Auswertung von Daten, über Fehlerquellen und die Gefahr von Artefakten, über Verfahren der Mehrfachüberprüfung und schließlich über die Idee der Objektivität. Immer mehr verfiel er in den Ton von jemandem, der in einem Kurs für Erstsemester das Abc des wissenschaftlichen Arbeitens erläutert und bei seinen Zuhörern höchstens mit einer durchschnittlichen Intelligenz rechnet.
    Silvestri blickte über die Tischkante hinaus aufs Parkett, dorthin, wo vorhin der Zettel gelegen hatte. In seinem Gesicht arbeitete es. Der anfängliche Ausdruck des Ärgers und der Indignation wurde von verschiedenen Schattierungen der Belustigung und sogar des Übermuts, aber auch der Ironie und Verachtung abgelöst, die bruchlos und ohne feste Ordnung ineinander übergingen. Dann, als er merkte, daß Millar bald fertig sein würde, zog er sich ganz aus seinem Gesicht zurück, rückte mit einer zerstreuten Bewegung noch einmal die Papiere zurecht und setzte sich auf die äußerste Kante des Stuhls. Seine langen, weißen Finger zitterten leicht, als er das Feuerzeug zur Zigarette führte. Evelyn Mistral schlug die Hände vors Gesicht wie jemand, der dem Anblick einer unabwendbaren Katastrophe entfliehen will.
    «Ich glaube, Herr Professor Millar», sagte er leise und in einer Aussprache, die jetzt einwandfrei war,«ich habe Sie genau verstanden. Sie wollen wiederholbare Experimente. Laborbedingungen mit ruhigen, stabilen Objekten. Kontrollierbare Variablen. Irre ich mich, oder möchten Sie auch diese Menschen am liebsten auf dem Stuhl festschnallen? »Er drückte die kaum angerauchte Zigarette aus, nahm seine Sachen und war mit wenigen Schritten draußen.
    Millar hatte rote Flecken im Gesicht und wirkte einen Moment lang wie betäubt. «Well», sagte er dann mit künstlicher Munterkeit und erhob sich. Seine Gummisohlen quietschten laut auf dem Parkett, als er mit energischen Schritten hinausging.
    Erst jetzt rührten sich die anderen.

50
     
    Der Regen hatte aufgehört, und es war Bewegung in die Wolken gekommen. Perlmann stand am Fenster und versuchte, Silvestris Ausrutscher zu entschuldigen, ohne Millar dabei unrecht zu tun. Es wollte nicht gelingen. Er fiel von einem Extrem ins andere, ohne für sein Urteil und Empfinden einen Ruhepunkt zu finden. In seiner Erinnerung hatte sich Silvestris Stimme in ein Zischen verwandelt, und es fiel Perlmann nicht schwer, den Haß zu spüren, der hinter diesem Zischen gestanden hatte. Er ließ sich besonders dann leicht nachvollziehen, wenn man sich Millars unerträglich belehrenden Tonfall vergegenwärtigte. Und niemand konnte von Silvestri verlangen, daß er in einem solchen Moment der offensichtlichen Tatsache Rechnung trug, daß Millar seinen Fauxpas mit dem Zettel durch eine kindische Flucht nach vorn hatte vergessen machen wollen. Doch dann sah

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