Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Perlmann auch immer wieder Millars Gesicht mit den roten Flecken vor sich, das Gesicht von jemandem, der unter der Wucht eines völlig unerwarteten Faustschlags innerlich taumelt. Er hatte sehr verletzlich ausgesehen, dieser Brian Millar, gar nicht wie der Unmensch, als den ihn Silvestris unselige Bemerkung hinstellte. Gut, er hielt die Todesstrafe für vertretbar, und das machte ihn zu einem sehr fremden Menschen. Aber er war an jenem Abend, den Silvestri wohl niemals vergessen würde, nicht missionarisch, nicht eifernd für sie eingetreten. Silvestri hatte recht: Da war eine bestimmte Art von Phantasielosigkeit im Spiel, eine Art von Naivität. Aber machten nicht gerade diese Phantasielosigkeit und diese Naivität Millar zu jemandem, dem man unmöglich die perversen, unmenschlichen Wünsche andichten konnte, die in Silvestris perfider Frage anklangen? Oder war es genau umgekehrt?
Perlmann versuchte sich zu vergegenwärtigen, was heute noch zu erledigen war. Aber es gelang ihm nicht, die Gedanken zusammenzuhalten, und so setzte er sich an den Schreibtisch und machte eine Liste. Es dauerte endlos, und er mußte jeden einzelnen Punkt einem lähmenden Widerwillen abtrotzen. Reisebüro. Es drängte ihn, den Flugschein jetzt gleich zu kaufen. Schreibwarengeschäft. Noch einmal zu dem stummen Jungen zurück, das war unmöglich. Es mußte noch ein anderes Geschäft geben, wo man Umschläge kaufen konnte. Tratto ria. Der helle Innenhof kam ihm jetzt fern und fremd vor. Aber die Chronik einfach dort lassen und ohne ein Wort abreisen, das brachte er nicht über sich. Auch Sandras wegen nicht. Maria. Von ihr mußte er sich heute verabschieden, morgen arbeitete sie nicht. Und dann war da noch etwas. Richtig: Angelini. Perlmann spürte den Magen. Sollte er einfach abwarten, ob er zum Abendessen erschien? Wenn er dann aber nicht kam, müßte er ihn morgen unter der privaten Nummer anrufen, die in der Notiz von neulich gestanden hatte. Das widerstrebte ihm. Nach allem, was geschehen war, wollte er sich ganz formell und geschäftsmäßig bedanken und verabschieden.
Er war dabei, Angelinis Nummer bei Olivetti herauszusuchen, als Silvestri kam, um sich zu verabschieden. Statt eines Koffers trug er eine Art Seesack über der Schulter.
«Ich fahre jetzt», sagte er einfach und gab Perlmann die Hand.«Danke für die Einladung. Rufen Sie an, wenn Sie in Bologna vorbeikommen. Und wenn Sie wieder so einen Text wie neulich haben: Ich lese ihn. »
Er hatte sich schon halb abgewandt, da hielt er inne, blickte zu Boden und beschrieb mit dem Fuß einen Halbkreis auf dem Teppich.
«Bei jenem besonderen Thema verliere ich immer die Kontrolle. Alte Krankheit», sagte er mit verhaltener, gedämpfter Stimme. Dann sah er Perlmann mit einem Lächeln an, in dem Verlegenheit, trotzige Selbstbehauptung und Schalk zusammenflossen, und fügte hinzu:«Unheilbar.»
Noch während er es in sich aufnahm, wußte Perlmann, daß er das Bild dieses Italieners mit dem Seesack, dem schräg nach oben gewandten Gesicht und dem vieldeutigen, sowohl kraftvollen als auch zerbrechlichen Lächeln nie vergessen würde. Es sank in ihn ein wie das gefrorene Bild am Ende eines Films.
«Ach ja: viele Grüße an Ihre Tochter», sagte Silvestri unter der Tür.«Falls sie überhaupt geneigt ist, dieselben entgegenzunehmen», fügte er grinsend hinzu.«Und wirklich: Gehen Sie zu Hause zum Arzt, Sie sehen immer noch schlecht aus. »Dann hob er leicht die freie Hand und war verschwunden.
Als Perlmann ihn unten aus dem Hotel kommen sah, ging Evelyn Mistral neben ihm und nickte gerade. Sie gingen langsam, wie auf einem leeren Bahnsteig. Kurz vor der Treppe ließ Silvestri den Seesack zu Boden gleiten und streckte beide Arme aus, um sie an sich zu ziehen. Da machte sie schnell einen halben Schritt rückwärts und streckte ihm die Hand entgegen. Automatisch ergriff er sie, und nach kurzem Zögern legte er ihr mit einer linkischen Bewegung die andere Hand auf die Schulter. Er schien sie dabei nicht mehr anzublicken, sondern bückte sich, warf den Seesack mit einer schwungvollen, vielleicht auch zornigen Bewegung über die Schulter und lief rasch die Treppe hinunter. Er war schon ziemlich weit unten, als Evelyn Mistrals Lippen ein Wort formten, das Ciao heißen mußte. Sie faßte sich mit beiden Händen ins Haar und preßte es zusammen, als wolle sie einen Pferdeschwanz machen. Dann ließ sie es wieder fallen und ging, indem sie sich hinter dem Rücken am Handgelenk faßte, langsam
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