Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
neuem tauchte die Sonne für Momente alles in ein sonderbar kaltes, gläsernes Licht. Perlmann fühlte sich leicht und ein bißchen zittrig wie einer, der den längst fälligen ersten Schritt in eine neue Zukunft hinein getan hat. Eine Verabredung zu einem Gespräch, eine Hotelreservierung, ein gebuchter Flug: Das war nichts, und zugleich war es sehr viel. Während er den gestochen scharfen Schatten betrachtete, den er in dem außergewöhnlichen Licht warf, empfand er Überraschung über sich selbst – darüber, daß er tatsächlich begonnen hatte, seinen Entschluß, der kaum dreißig Stunden alt war, in die Tat umzusetzen. Auch einen leisen Stolz spürte er. Und nach einer Weile wurde ihm klar, daß er eine Erfahrung wie diese noch nie gemacht hatte: fast auf die Minute genau zu wissen, wann er begonnen hatte, an einen Entschluß wirklich zu glauben. Er sah sich bereits in einem Büro voll von südlichem Licht, versunken in das, was er am liebsten tat, seit er nicht mehr Klavier spielte: sich ganz in Wörter und Wendungen hineinfallen zu lassen und in einem inneren Kreisen zu prüfen, ob der anderssprachige Ausdruck die fragliche Nuance genau traf. Die Bilder und Empfindungen, die jetzt in ihm aufstiegen, waren so genau und so mächtig, daß er, ohne es recht zu merken, nach wenigen Schritten immer wieder stehenblieb und regungslos, mit leerem Blick, vor sich hin starrte. Wieder einmal erschrocken über seine zügellose, hitzige Phantasie, die eine erträumte Zukunft förmlich herbeizuzwingen versuchte, rieb er sich die Augen und ging dann mit disziplinierten Schritten weiter, wobei er, um sich abzulenken, die Schaufensterauslagen aufmerksamer betrachtete, als es seine Gewohnheit war.
Bereits beim Teilen des Glasperlenvorhangs merkte er, daß ihm die Trattoria fremd geworden war. Einen Augenblick überlegte er, ob es vielleicht an dem ungewöhnlichen Licht lag, das durch das Glasdach des Innenhofs fiel. Aber das war es nicht. Das Lokal war ihm jetzt ähnlich fremd wie ein Ort, an dem man vor so langer Zeit gelebt hat, daß es schwerfällt, jenes Leben noch sich selbst zuzurechnen.
«Professore», rief die Wirtsfrau,«wir dachten schon, Ihnen sei etwas zugestoßen! »
Perlmann war erleichtert, daß sie ihn dann doch nicht, wie es zunächst aussah, zu umarmen versuchte. Mit dem freudigen Eifer, mit dem sie auch einen lange vermißten Verwandten bewirten würden, stellten sie und ihr Mann, der die unvermeidliche weiße Schürze umgebunden hatte, das Essen vor ihn hin und nötigten ihm eine zweite Portion auf.
«Sie sehen so überarbeitet aus, Sie müssen essen!»
Obwohl ihm die Teigwaren schwer im Magen lagen, aβ Perlmann immer weiter, froh darüber, mit dem Kauen eine Ausrede für seine Schweigsamkeit zu haben. Die familiäre Atmosphäre, die früher bestanden hatte, kam ihm jetzt wie eine sentimentale, kitschige Lüge vor, und er fürchtete sich vor dem Kaffee, wo offenbar werden mußte, daß er diesen Menschen, deren redselige Herzlichkeit ihm heute unpassend und geradezu abstrus vorkam, absolut nichts zu sagen hatte. Die Situation wurde dann durch Sandra gerettet, die beim Eintreten ihre Schultasche in die Ecke feuerte und unter Tränen von einem mißlungenen Diktat in Englisch berichtete.
Als der Wirt ihm die Chronik brachte und Sandra mit gesenkter Stimme ermahnte, den Professore jetzt nicht mehr zu stören, hätte man meinen können, es handle sich um ein heiliges Buch. Dabei empfand Perlmann die Bilder auf dem glänzenden Umschlag heute als laut und abstoßend. Müde und mit einem Völlegefühl im Magen blieb er vor dem ungeöffneten Buch sitzen, so daß ihm der Wirt, bevor er in der Küche verschwand, einen verwunderten Blick zuwarf. Lustlos blätterte er einige Seiten um. Doch die Geschichte der Welt, die seine Lebensgeschichte begleitet hatte, interessierte ihn keinen Deut mehr, und die ganze Idee, sich seine vergangene Gegenwart dadurch anzueignen, daß er sich den Lauf der fernen Welt vergegenwärtigte, kam ihm wie eine mystische Spinnerei vor.
Es drängten jetzt wieder die Bilder des hellen Büros in den Vordergrund, und Perlmann entwarf hinter geschlossenen Lidern verschiedene Silhouetten der Stadt Ivrea, auf die er von hoch oben hinunterblicken würde. Die Übersetzungsarbeit unterbrechen und diese unspektakuläre, vielleicht sogar häßliche italienische Stadt betrachten: Das könnte, da war er sich ganz sicher, seine neue Gegenwart sein – die erste, die ihm richtig gelänge.
Mit
Weitere Kostenlose Bücher