Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Gefängnis, sagte er mit bitterem Spott, eine gewisse moralische Autorität, die ihm gar nicht lieb war, denn sie schuf einen Ring aus widerwilligem und beklommenem Respekt um ihn herum, so daß bestimmte Gespräche regelmäßig abbrachen, wenn er hereinkam.
Und nun war kürzlich diese Stelle frei geworden.
«Ich bin der logische Kandidat. Aber du kannst dir denken, daß sie mich aus all diesen Gründen nicht wollen. »Und es gab ein Argument: Er hatte nur wenig veröffentlicht. Leskov stützte ein Bein auf den Geländersims, umfaßte das Knie mit beiden Händen und sah hinunter aufs Meer, wo das Licht bereits etwas von seiner Glut verloren hatte. In seinem Gesicht zuckte und zitterte es.«Du wirst ins Gefängnis gesteckt, und anschließend wird dir vorgehalten, du hättest zu wenig veröffentlicht. Siehst du, deshalb ist der Text so wichtig. Wäre er so wichtig gewesen. Ihr vorgeschobenes Argument hätte an Gewicht verloren. Wenn es von Ihnen wenigstens einen längeren Text aus jüngster Zeit gäbe! Das habe ich oft gehört. Und nun liegt der Text auf irgendeiner Müllkippe. Futsch. Wenn ich doch nur eine Kopie hätte machen können! Aber nach der Warterei im Reisebüro und auf dem Telegrafenamt war es zu spät: Fotokopien machen zu lassen ist bei uns nämlich immer noch schrecklich umständlich. »
Perlmann drehte sich seitwärts und berührte dabei mit dem Fuß den Handkoffer. Er bedeckte das Gesicht mit der Hand. Ich brauche ihn nur herauszunehmen. Aber nein, es ist unmöglich. Es gibt schlechterdings keine harmlose Erklärung. Irgendwann stieße er auf die Wahrheit. Müßte er auf sie stoßen.
Leskov berührte ihn am Arm.«Laß uns nach unten ein Stück zu Fuß gehen. Und jetzt wollen wir nicht mehr von mir reden!»
Das Meer hatte die Farbe von Kupfer, als sie auf der Rückfahrt nebeneinander an der Reling standen. Sie hatten eine Weile nicht gesprochen, und es kam Perlmann vor, als ließe jeder weitere Moment des Schweigens, wie damals im Tunnel, eine ungewollte Intimität entstehen. Gleich würde Leskov von Agnes anfangen.
«Am Ende der Sitzung», sagte er, als Leskov sich ihm zuwandte,«hast du doch die überraschende Behauptung aufgestellt, es gebe keine wahre Geschichte über unsere erlebte Vergangenheit. »
Leskov grinste.«Die Behauptung, die Achim einen Bleistift gekostet hat. »
«Und dann hast du zwei Wörter angefügt, russische wohl, die ich nicht verstanden habe. Was war damit?»
«Also hat es doch einer bemerkt», lachte Leskov.«Ich dachte schon, jeder hätte das einfach für unverständliches russisches Gebrabbel gehalten. Aber dir ist es natürlich aufgefallen. »
Perlmann kam sich vor, als werde er einer Klasse als Musterschüler vorgeführt.
«Klim Samgin waren die beiden Wörter. So heißt die Hauptfigur in Maksim Gorkijs letztem Roman, einem vierbändigen Werk von über zweitausend Seiten, das den Titel trägt: izn’ Klima Samgina. Das Leben des Klim Samgin. Mit dieser Figur schafft sich Gorkij eine Erzählperspektive, um vierzig Jahre russischer Geschichte zu schildern. Ein wichtiges Motiv dabei ist, daß Samgin ein reflektiertes, man könnte auch sagen: gebrochenes Verhältnis zur Wirklichkeit hat, in das sich immer wieder radikale Zweifel an den Erzählungen der anderen wie auch an den eigenen Wahrnehmungen einschleichen. So läßt Gorkij schon den kleinen Jungen Klim die Entdeckung machen, daß das Erdichten von Dingen ein wichtiger Bestandteil des Lebens ist, etwas, ohne das man nicht bestehen kann. Es gibt da wunderbare Sätze wie etwa... warte mal... ja: I vsegda nužno čto-nibud’ vydumyvat’, inače nikto iz vzroslych ne budet zamečat’ tebja i budeš’ žit’ tak, kak budto tebja net ili kak budto ty ne Klim. Hast du verstanden?»
Perlmann schüttelte den Kopf.
«Moment», sagte Leskov, schloß die Augen und murmelte den russischen Satz noch einmal vor sich hin.«Auf deutsch würde es etwa so heißen: Man muβ ständig etwas erdichten, sonst beachten dich die Erwachsenen nicht, und du würdest leben, als seist du gar nicht da oder als seist du nicht Klim. Oder ein anderer Satz... »Leskov bewegte, während er sich die Worte innerlich vorsagte, stumm die Lippen.«Etwa so: Klim entsann sich nicht, wann er eigentlich gemerkt hatte, daβ man ihn erdichtete, und er daraufhin selbst angefangen hatte, sich zu erdichten.» Gorkij verwendet immer dasselbe Wort: vydumyvat’; also erdichten, erfinden. Und in dem Zwischentitel meines neuen Texts, den ich in der Sitzung
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