Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
davontragen würden. Erst dann konnte die Zeit wieder weiterfließen und ihn vorwärtstragen, wohin auch immer.
Es waren keine fünf Minuten vergangen, da richtete er sich auf. Langsam holte er den Umschlag aus dem Handkoffer, entfernte die Klammern und nahm die Plastikhülle heraus. Auf die beschädigten Zähnchen des Reißverschlusses brauchte er jetzt keine Rücksicht mehr zu nehmen. Mit einem einzigen Ruck, in den er seine ganze Verzweiflung legte, riß er den Verschluß auf. Eines der lockeren Zähnchen wurde dabei abgerissen und fiel zwischen die Blätter. Er zwang sich zu ein paar langsamen Atemzügen und zog den Text behutsam heraus. Mit dem Handrücken fuhr er mehrmals über das oberste, gewellte Blatt. Das Loch mit den ausgefransten, bräunlichen Rändern, wo der Zweig durchgestochen hatte, war größer, als er es in Erinnerung hatte.
Er wusch sich das Gesicht und kämmte einen lächerlich aufstehenden Haarbüschel weg. Ein frisches Hemd. Ja, auch das Jackett. Viel würde das warme Wasser gegen die kalten Hände nicht nützen, aber er ging trotzdem noch einmal ins Bad. Die Tür seines Zimmers zog er so sachte hinter sich zu, als schliefe drinnen jemand.
Als er in den Korridor mit Leskovs Zimmer einbog, wurden seine Schritte langsamer. Zwei Türen vorher drehte er um, ging zum Lift und setzte sich in den großen Korbstuhl. Es gab nichts mehr zu bedenken. Er gab ihm den Text – dann mußte er alles gestehen. Er gab ihm den Text nicht-dann bekam Leskov seinetwegen die Stelle nicht. Es war alles ganz klar. Glasklar. Es gab keinen Grund, hier im Korbstuhl zu sitzen. Kein Warten konnte jetzt noch zur Klärung von irgend etwas beitragen.
Perlmann wartete. Er hätte gerne geraucht. John Smith aus Carson City, Nevada, der im Trainingsanzug aus dem Lift kam, zeigte ihm die Schlagzeile seiner Zeitung und schüttelte mißbilligend den Kopf. Zwei französische Geschäftsleute mit Aktenkoffern kamen aus dem Korridor und gingen palavernd zur Treppe. Ein Zimmermädchen mit Bettbezügen über dem Arm schlurfte vorbei.
Perlmann ging erneut den Korridor entlang. Der blaue Läufer aus synthetischem Material war übertrieben dick, er hatte den Eindruck zu waten. Neben Leskovs Tür lehnte er sich an die Wand. Dann hielt er das Ohr an die Tür und hörte, wie Leskov hustete. Er rollte den Text ein und verbarg ihn mit der linken Hand hinter dem Rücken. Ein letztes Zögern, bevor der gekrümmte Finger, ein häßlicher, abstoßender Finger, das Holz berührte. Er klopfte zweimal. Leskov schien es nicht gehört zu haben. Perlmann begann die Nase zu laufen. Er ging einige Schritte zurück, klemmte die Rolle unter den Arm und schneuzte sich. Nach dem erneuten Klopfen hörte er Leskov zur Tür kommen. Ein kurzes Husten, bevor die Tür aufging.
«Ach, Philipp, du bist es», sagte Leskov.«Komm rein.»
Es war unmöglich, es zu tun. Unmöglich. Das war keine Einsicht, kein Wissen, keine Entscheidung. Nicht einmal ein Gedanke war es. Auch mit dem Willen hatte es eigentlich nichts zu tun. Es war überhaupt nichts, was Perlmann gegenwärtig war; nichts, worüber er verfügte. Nachher kam es ihm vor, als sei er gar nicht dabeigewesen. Der Körper konnte das Geplante einfach nicht ausführen. Der Absicht standen mächtige, unverrückbare Kräfte entgegen, die nicht wichen. An diesen Kräften glitt der Vorsatz als etwas lächerlich Kraftloses ab. Das System streikte. Eine weiße, vollständig gefühllose Panik setzte alles außer Kraft.
«Komm doch rein», wiederholte Leskov mit einem herzlichen, aber eine Spur verwunderten Lächeln.
«Nein, nein», hörte Perlmann sich sagen,«ich wollte mich nur vergewissern, wann dein Flug morgen geht. Damit ich Angelini genauer Bescheid sagen kann. »
«Ach so. Warte, ich seh’ mal schnell nach. Aber bitte, komm doch wenigstens so lange herein. »
Während Leskov den Flugschein aus dem Handkoffer holte, blieb Perlmann mit dem Rücken zur angelehnten Tür stehen. Wo die Hand die Blätter umschloß, waren sie naß.
«Um neun Uhr fünf», sagte Leskov. Er deutete auf einen Sessel.«Auf eine Zigarettenlänge?»
«Nein, wirklich nicht. Ich habe Angelini versprochen, ihn gleich zurückzurufen. Er wartet.»
Perlmann machte einen Schritt zur Seite, zog die Tür mit der rechten Hand auf und ging rückwärts hinaus. Leskov blieb unter der Tür stehen und sah ihm nach. Perlmann ging ein paar Schritte rückwärts weiter. Dann drehte er sich in einer schnellen Bewegung nach links um die eigene Achse und
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