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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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verzweifelten Lage zu sehen. Und so entsteht die Frage, ob er den Gürtel aus purer Angst losläßt, oder ob auch der Haß die Hand im Spiel hat. Weil es eine traumatische Erfahrung ist, wird Klim auch dazu etwas erdichten müssen, und dieses Mal ist es ein Erdichten der Innenwelt. Er wird sich seine innere Vergangenheit erzählen. Und es gibt nichts, rein gar nichts, an dem er sich festhalten könnte, wenn er sich fragt, welche der verschiedenen Geschichten die wahre ist. »
    Leskov hielt das Feuer an die erloschene Pfeife. Er stand jetzt mit dem Rücken zum Wasser, fixierte, wie es schien, die Ziffern an der Außenwand eines Rettungsbootes, und als er fortfuhr, klang es wie aus weiter Ferne.
    «Es ist mir dann merkwürdig ergangen. Als Woche um Woche in dieser entsetzlichen, grauen Eintönigkeit verstrich, die schlimmer ist als alle Schikanen, verlor ich allmählich das Gefühl für meine eigene innere Vergangenheit. Du weißt nach einiger Zeit einfach nicht mehr, wie dein Erleben war, bevor du hierherkamst. Es muß für einen Außenstehenden verrückt klingen, aber es geht dir eine Sicherheit verloren, die vorher so selbstverständlich war, daß du gar nichts von ihr wußtest. Es ist ein lautloser, schleichender, unaufhaltsamer Verlust der inneren Identität. Dagegen kämpfst du, wie du noch nie gekämpft hast. Du erzählst dir deine innere Vergangenheit immer aufs neue, um sie am Entgleiten zu hindern. Aber je öfter du es tust, desto aufdringlicher wird der Zweifel: Stimmt das wirklich, oder erdichte ich mir dieses vergangene Erleben bloß? Und du kannst dir sicher vorstellen, wie Gorkijs Thema und die eigene Erfahrung immer mehr miteinander verschmolzen, so daß der Name Klim Samgin in mir zum Symbol für diesen Abgrund an Identitätsverlust geworden ist. »
    Leskov verließ das Schiff wie in Trance und blieb nach wenigen Schritten wieder stehen.«Und trotzdem war ich damit noch nicht bei meiner verrückten These angekommen. Die ergibt sich erst, wenn man den Gedanken hinzunimmt, daß Erleben durch Erzählen nicht abgebildet, sondern in gewissem Sinne geschaffen wird-die Idee also, die du aus meinem früheren Text kennst. »
    Perlmann merkte zu spät, daß er genickt hatte. Entsetzt wandte er den Kopf zu Leskov. Aber der hatte nichts gemerkt und redete weiter.
    «Weißt du, es ist schwer zu beschreiben, aber das innere Formulieren und Verteidigen meiner These hat mir viel geholfen, die restliche Zeit im Gefängnis zu überstehen. Warum das so war, weiß ich bis heute nicht genau. Aber ich vermute, daß es weniger mit dem Inhalt der These zu tun hatte als mit dem Gefühl, eine aufregende Entdekkung gemacht zu haben. Das gab mir ein Stück innere Freiheit und machte mich für vieles unverwundbar. »
    Auf der Freitreppe des Hotels blieb Leskov noch einmal stehen.«Als ich wieder draußen war und meine Arbeitsfähigkeit zurückgewonnen hatte, war mir der Mut zu meiner wichtigsten These verlorengegangen, und so begnügte ich mich in der ersten Fassung mit den Beobachtungen über die schöpferische Rolle der Sprache fürs Erleben. Nur hin und wieder streife ich dort den radikalen Gedanken. Ich glaube, ich hatte Angst zu entdecken, daß ich im Gefängnis vorübergehend den Verstand verloren hatte. Erst im Laufe dieses Sommers begann ich, mich innerlich wieder an die Sache heranzutasten. Und als ich das Ganze dann aufschrieb, war das ein Prozeß, in dem auch die Haft verarbeitet und hoffentlich bewältigt wurde. Eine Art Heilungsprozeß. »Vor dem Säulenvorbau nahm Leskov die Brille ab und fuhr sich über die Augen.«Deshalb muß ich den Text finden, wenn ich heimkomme. Ich muß einfach. Es ist nicht nur wegen der Stelle. Dieser Text – er ist ein Stück meiner Seele. »
    «Hatten Sie einen guten Flug?»fragte Signora Morelli.
    «Ja, danke», sagte Perlmann wie jemand, den man gerade geweckt hat.
    «Sie hat wegen des Zettels von gestern morgen gefragt, nicht wahr?»fragte Leskov im Lift.
    Perlmann nickte.«Ein Mißverständnis. »
     
    Oben im Zimmer ließ er sich aufs Bett fallen. Er tat es, ohne den Handkoffer vorher abzusetzen – so, als wäre er mit ihm verwachsen. Als er ihn schließlich doch losließ, sah er, daß der lederne Griff vom Schweiß der Hand schwarz war.
    Zu überlegen gab es nichts mehr. Jetzt war es nur noch eine Frage der Willenskraft. Zitternd wartete er darauf, daß die Empfindungen der Schuld und der eigenen Schäbigkeit, mit denen er sich zu verbünden suchte, den Sieg über die Angst

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